|
|
aus:
Leonardo Boff:
DIE
WELT HAT IHR HERZ VERLOREN!
Verfolgt man den gegenwärtigen Lauf der Welt, sowohl auf internationaler
als auch auf nationaler Ebene, so sieht man einen regelrechten Tsunami von
Hass, Lügen, Ausgrenzung, regelrechtem Völkermord und Massenvernichtung, wie im
Gazastreifen, der uns ratlos macht. Wie weit kann das menschliche Böse gehen?
Es gibt keine Grenzen für das Böse. Es kann bis zur Selbstauslöschung des
Menschen gehen.
Wenn ich an unser Land denke, die Todesfälle, die Morde an
jungen Schwarzen in den Randbezirken, die Kinder, die Opfer verirrter Kugeln
werden, sei es von der Polizei (die tötet) oder von kriminellen Vereinigungen,
die täglichen Frauenmorde und die Hunderte von Vergewaltigungen von Mädchen
und Frauen, die Zerstückelung von Entführten, lassen eine ganze Stadt wie Rio
de Janeiro ständig in Angst und Bedrohung leben. Sie verliert ihren ganzen
Glanz. Dies geschieht in fast allen großen Städten unseres Landes, die Sérgio
Buarque de Holanda als „herzlich“ bezeichnete (Raízes do Brasil,
1936). Die meisten Interpreten haben jedoch die Fußnote zu dem Begriff „herzlich“
nicht gelesen, in der er bemerkt: „Feindschaft kann ebenso herzlich sein wie
Freundschaft, da beide aus dem Herzen geboren werden“ (Nr. 6). Brasilien
zeigt also, vor allem unter der Regierung der Unwählbaren, die Feindschaft
zwischen Freunden und in den Familien, die Banalität des Fluchens, des
schlechten Benehmens und der Lüge: alle sind „herzlich“, weil sie aus
einem „herzlichen“ (perversen) Herzen geboren werden.
Auf internationaler Ebene ist das Szenario noch
abscheulicher. Mit der uneingeschränkten und mitschuldigen Unterstützung der
USA und der beschämenden Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft, die ihr
Erbe der Bürgerrechte, der Demokratie und anderer zivilisatorischer Werte
verraten hat, werden von der rechtsextremen Regierung Benjamin Netanyahus
wahre Kriegsverbrechen an 40.000 Zivilisten und der unbestreitbare Völkermord
an rund 13.000 unschuldigen Kindern im Gazastreifen verübt. Dies ist eine
völlig unverhältnismäßige Vergeltungsmaßnahme für ein anderes, nicht weniger
schreckliches Verbrechen der Terrorgruppe Hamas. Netanyahu lässt solche Völkermorde zu, weil
er kein Herz hat, weil er sich nicht in die Mütter und unschuldigen Opfer
hineinversetzen kann. Es ist ihm egal, ob er, um einen Hisbollah-Führer zu
töten, Dutzende anderer Menschen bei einem Bombenangriff opfern muss. Ähnliche
Verbrechen finden in dem Krieg statt, den Russland gegen die Ukraine führt, mit
Tausenden von Opfern, der Zerstörung einer uralten Schwesterkultur und
unzähligen unschuldigen Opfern. Bleiben wir hier stehen auf diesem Kreuzweg der
Schrecken, der mehr Stationen hat als der des kreuztragenden Gottessohnes.
Es stellt sich die Frage, wie dies am helllichten Tag
geschehen kann, ohne dass eine anerkannte Autorität diese Ausrottung von
Menschen und ganzen Städten stoppen könnte. Was ist die eigentliche Ursache
für diese Ungerechtigkeit? Die Geschichte kennt Ausrottungen in der Vergangenheit,
sogar im Namen Gottes, wie im schrecklichen Buch der Richter in der
jüdisch-christlichen Bibel und in so vielen Kriegen der Vergangenheit. Israel
hat mehr als 207 UN-Beamte getötet, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und
Moscheen bombardiert und 80 Prozent des Gazastreifens zerstört. Heute besteht
die ernste Gefahr eines totalen Krieges zwischen den militaristischen Mächten,
die um die Vorherrschaft in der Welt wetteifern, was das Prinzip unserer
Selbstzerstörung verwirklichen würde.
Ich bleibe bei der Interpretation, dass all dies möglich
geworden ist, weil wir das Herz, den esprit de finesse (Pascal) und die
Dimension der Anima (die Sensibilität von C.G. Jung) verloren haben. Die
moderne Kultur ist auf dem Willen zur Macht als Herrschaft aufgebaut, die sich
der Vernunft bedient, losgelöst von Herz und Gewissen, übersetzt in
Techno-Wissenschaft für unser Wohl und mehr für kriegerische Zwecke. Wie Papst
Franziskus in Laudato Sì feststellte: „Die Menschen sind nicht im richtigen Gebrauch
der Macht erzogen worden, … weil sie nicht in Bezug auf Verantwortung, Werte
und Gewissen begleitet wurden“ (Nr. 105). Die Vernunft hat ihre Willkür in
Form des Rationalismus etabliert, indem sie andere Arten, die Wirklichkeit zu
erkennen und zu empfinden, erniedrigt hat. Auf diese Weise wurde das Gefühl
(Pathos) unter der falschen Annahme unterdrückt, dass es die Objektivität der
Analyse behindern würde. Heute ist klar, dass es keine absolute Objektivität
gibt. Das Subjekt forscht mit seinen eigenen Voraussetzungen und Interessen,
so dass Subjekt und Objekt immer miteinander verwoben sind.
Tatsache ist, dass die Dimension des Herzens und der Wärme
verdrängt wurde. Neben dem Reptiliengehirn, das das älteste ist, ist das
limbische Gehirn unsere eigentliche Basis. Es entstand bei den
Paläo-Säugetieren vor 150 - 200 Millionen Jahren und bei den höheren
Säugetieren vor 40 - 50 Millionen Jahren, mit denen wir eine
Wohngemeinschaft teilen. Wir sind rationale Säugetiere und daher empfindungsfähige
Wesen. Das limbische Gehirn ist der Sitz unserer Emotionen, sei es Hass, Wut
oder andere Negativität, aber vor allem beherbergt es die Welt der Exzellenz,
der Liebe, der Freundschaft, der Empathie, der Werte, der Ethik und der
Spiritualität. Das neokortikale Gehirn entstand mit dem Menschen vor 7 - 8
Millionen Jahren und erreichte seinen Höhepunkt vor etwa 100.000 Jahren mit
der Entstehung des Homo sapiens, dessen Erben wir sind. Es ist die Welt der
Vernunft, der Konzepte, der Sprache und der logischen Ordnung der Dinge.
Es war also eine späte Ankunft, aber mit seiner Entwicklung
begründete es das Reich der Vernunft. Aber man darf nicht vergessen, dass wir
es mit einem einzigen Gehirn zu tun haben, das diese drei Dimensionen
umfasst, die immer miteinander verbunden sind (in Mac Leans Version des
dreieinigen Gehirns: reptilisch, limbisch, Neokortex). Die übermäßige
Konzentration auf die Rationalität, mit der wir die Welt, die Frauen
(Patriarchat) und die Natur auf Kosten der Gefühle beherrscht haben, hat zu
sozio-historischen Missverständnissen geführt, deren schädliche Folgen wir
jetzt ernten. Es ist dringend notwendig, das neokortikale Gehirn
(Vernunft/Logos) mit dem limbischen Gehirn (Herz/Pathos) zu vereinen, wobei
das Herz die rationalen Projekte mit Menschlichkeit und Sensibilität
bereichert und umgekehrt in die Vernunft investiert, d. h. der Welt der
Gefühle und des Herzens eine Richtung und ein angemessenes Maß gibt. Weil
wir das Gefühl der gegenseitigen Zugehörigkeit, dass wir ausnahmslos alle Menschen
sind, ertränkt haben, sind wir zu grausamen Völkermördern (gegenüber unserer
Spezies) und Umweltmördern (gegenüber der Natur) geworden. Wir haben unsere
Brüder und Schwestern versklavt, unterjocht und diskriminiert.
Der westliche, liberal-kapitalistische Humanismus ist
bankrott, weil wir die Dimension des Herzens, des Geistes der Finesse (Pascal),
der essentiellen Sensibilität (anima) nicht gerettet haben. Die so genannte
„regelbasierte Ordnung“ (die sich immer nach der Bequemlichkeit der Mächtigen
richtet) hat sich als Trugschluss erwiesen.
Wie eine hochrangige UN-Beamtin, Chelsea Ngnoc Minh Nguyen,
warnte: „Die Gewalt und Brutalität der letzten Jahre sollte uns alle – ob im
Süden oder im Norden, im Osten oder im Westen – dazu veranlassen, eine ehrliche
und tiefe Selbstprüfung über die Art von Welt vorzunehmen, in der wir leben
wollen“ (IHU 4/10/24). Ich sehe keine andere Alternative, als das Paradigma
der Zivilisation (vom domus zum frater) zu ändern, als einen neuen Humanismus
zu gründen, der in unserer eigenen Natur wurzelt. In ihm finden wir die
anthropologischen Konstanten, die unserem Menschsein innewohnen: bedingungslose
Liebe, essentielle Fürsorge, Kooperation, Empathie, Mitgefühl, Anerkennung des
Anderen als Mitmensch, Respekt vor der Natur und der Erde, die uns alles gibt,
Verzauberung durch das Schöne und Gute und Ehrfurcht vor dem Mysterium. Diese
Werte wären die Grundlage einer anderen möglichen und notwendigen Welt.
Andernfalls steuern wir auf das Unvorstellbare zu.
Quelle: leonardoboff.org, 13. 10. 2024
Übersetzung von Bettina Gold-Hartnack.
Leonardo Boff, geboren am 14. Dezember 1938 in
Concordia im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina als Sohn Südtiroler
Einwanderer, ist Theologe, Philosoph, Schriftsteller, Professor und
Mitbegründer der internationalen Initiative „Erdcharta“. Er gehört zu den
wichtigsten Befreiungstheologen Lateinamerikas.
Zu seinen neueren Büchern gehören: „Befreit
die Erde! Eine Theologie für die Schöpfung“, Stuttgart 2015. „Wie man sich um
das Gemeinsame Haus kümmert“, Petropolis/Rio 2018. „Traum von einer neuen Erde
– Bilanz eines theologischen Lebens“, Münster 2019 „Das Stöhnen der Erde.
Geburtswehen einer neuen Welt“, Berlin 2022. „Universale Geschwisterlichkeit:
Gesellschaftsordnung der Zukunft“, Münsterschwarzach 2022.
PADRE MARCELO ERMORDET
In „KC“ 458/459 (Mai/Juni 2022, AUF DER
SUCHE NACH HELDEN*INNEN: PADRE MARCELO, S 10 ff.) brachten wir einen Bericht
des Filmemachers Fernando Romero-Forsthuber über den mexikanischen
Armenpriester Padre Marcelo Pérez. U. a. hieß es dort: „Ich war sehr
beeindruckt von der Begegnung mit Padre Marcelo. Er hat etwas Mystisches an
sich. Etwas, das ihn ,schweben’ lässt, wo immer er auch geht... Vielleicht ist
es seine Motivation, Seite an Seite mit den Armen zu gehen, dass man, wo immer
er ist, von Hoffnung erfüllt ist. Ja, man spürt den Geist des Kampfes und der
Befreiung. Und die Angriffe, die er erleidet, die von Verleumdungen – zum
Beispiel wird er auf Social Media beschuldigt, der Anstifter der bewaffneten
Milizen von Pantelho zu sein – bis hin zu Drohungen und Angriffen reichen,
erträgt er mit Stoizismus. Auf ihn ist sogar ein Kopfgeld ausgesetzt. Er weiß,
dass sein Weg gefährlich ist. Aber, wie er bei seinen Treffen immer wieder
betont: Es reicht nicht, nur zu beten. Denn, wäre Jesus gekreuzigt worden, wenn
er nur gebetet hätte?“ Und in dem Interview das Romero-Forsthuber mit Padre
Marcelo führte sagte dieser auf die Frage, ob er sich bewusst sei, dass sein
Leben in Gefahr sei: „Ich bin mir bewusst, dass jemand, der für den Frieden
kämpft, manch-mal das Leben opfern muss. Für mich ist der Frieden größer als
mein eigenes Leben, größer als der Tod, der Frieden der Menschen ist größer als
Drohungen und Verleumdungen.“ Am 20. Oktober wurde Padre Marcelo ermordet.
Wir bringen einen Bericht der „Agentur Fides“, dem Presseorgan der Päpstlichen
Missionswerke in Rom.
Die katholische Gemeinde von Chiapas teilt ihre Trauer und
ihre Gebete in diesen Stunden nach der Ermordung eines indigenen Priesters, des
Pfarrers des Viertels Cuxtitali in San Cristóbal de las Casas, Chiapas. Der
Überfall auf Pater Marcelo Pérez ereignete sich auf dem Rückweg von der Pfarrei
Nuestra Señora de Guadalupe in San Cristóbal de las Casas, Mexiko, nachdem er
die Messe gefeiert hatte. Den laufenden Ermittlungen zufolge haben zwei
angeheuerte Attentäter ihn am Sonntagmorgen, den 20. Oktober, erschossen.
Er ist bekannt für seinen Einsatz für Gerechtigkeit und
Frieden in den indigenen Gemeinschaften der Region sowie für seine Vermittlung
bei Konflikten in Gebieten wie Pantelhó, wo Gewalt und Unsicherheit erheblich
zugenommen haben und wo bewaffnete Gruppen seit langem die Kontrolle über das
Gebiet ausüben. Der Maya-Priester Tsotsil, der indianischer Abstammung ist und
direkt von den Maya abstammt, hatte im Laufe der Jahre eine Reihe von
Morddrohungen und ständigen Verleumdungen er-halten, weil er gegen die Aktionen
der bewaffneten Gruppen in der Region vorging und sie anprangerte.
Gerade wegen der ständigen Drohungen hatte die Diözese San
Cristóbal de las Casas beschlossen, ihn von der Gemeinde Simojovel in die
Gemeinde Nuestra Señora de Guadalupe zu versetzen. „Chiapas ist eine
tödliche Bombe, es gibt viele Menschen, die verschwunden sind, entführt wurden
und durch das organisierte Verbrechen ermordet wurden“, sagte er in einem
Interview am 13. September während einer Friedensdemonstration, an der
Gemeindemitglieder aus den drei Diözesen von Chiapas teilnahmen. Im August 2024
sagte er, dass in Simojovel ein Preis von einer Million Pesos (knapp 50.000
Euro) auf sein Leben ausgesetzt worden sei, dass er aber unter dem Schutz
Gottes seinen Friedensprozess fortsetzen werde. „Ich habe ein göttliches
Mandat“, sagte er der Sol de México am 2. August 2024.
Der Sohn bäuerlicher Eltern wurde in der Gemeinde
Chichelalhó, in San Andrés Larráinzar, Chiapas, geboren. Er studierte im
Priesterseminar, wurde am 6. April 2002 zum Priester geweiht und begann seine
kirchliche Arbeit als Gemeindepfarrer in Chenalhó, wo er Kontakt zu den
Überlebenden des Massakers von Acteal im Jahr 1997 hatte. (Bei dem Massaker von
Acteal handelte es sich um ein Massaker an 45 Teilnehmern eines Gebetstreffens
katholischer indigener Dorfbewohner, darunter mehrere Kinder und schwangere
Frauen, die Mitglieder der pazifistischen Gruppe Las Abejas – „Die Bienen“ –
waren, in dem kleinen Dorf Acteal in der Gemeinde Chenalhó im mexikanischen
Bundesstaat Chiapas. Die rechtsgerichtete paramilitärische Gruppe Máscara Roja
ermordete die Opfer am 22. Dezember 1997, während die mexikanische Regierung im
September 2020 erstmals die Verantwortung für das Massaker zugab). Marcelo Pérez war jahrzehntelang als
Menschenrechtsaktivist tätig und lebte mehr als 10 Jahre lang in Simojovel. Er
koordinierte die Sozialpastoral der Provinz Chiapas, zu der die Diözesen der
Gemeinden San Cristóbal de Las Casas, Tapachula und Tuxtla Gutiérrez gehören,
unterstützte indigene Organisationen und religiöse Gruppen und leitete
Pilgerfahrten und Aktivitäten zu den Themen Gesundheit, Armut und Gewalt in
Simojovel. Außerdem war er 10 Jahre lang Pfarrer in Chenalhó, 10 Jahre in
Simojovel und mehr als zwei Jahre in der Pfarrei Nuestra Señora de Guadalupe.
Im Jahr 2020 wurde Padre Marcelo für den „Per Anger
Preis“ nominiert, der vom schwedischen „Forum för levande historia“
seit 2004 jährlich an Personen, die sich bei-spielhaft für Demokratie und Menschenrechte
einsetzen, verliehen wird. Per Anger war ein schwedischer Diplomat, der
zahlreiche Juden vor dem Holocaust in Budapest rettete.
Kardinal Felipe Arizmendi Esquivel, emeritierter Bischof von San Cristóbal de las Casas,
drückte seine tiefe Trauer aus und erinnerte daran, dass Pater Marcelo einer
der ersten indigenen Tsotsil-Priester war, die er geweiht hat. „Er hat sich
immer für Gerechtigkeit und Frieden unter den Eingeborenen eingesetzt,
besonders in Simojovel, und die Opfer der internen Gewalt in Pantelhó begleitet“,
sagte Esquivel. Dem Kardinal zufolge war der Priester nie parteipolitisch
aktiv, sondern setzte sich stets für Respekt und Gerechtigkeit in den Gemeinden
ein: „Er kämpfte immer dafür, dass die Werte des Reiches Gottes in den
Gemeinden gelebt werden. Dies sind die Werte der Wahrheit und des Lebens, der
Heiligkeit und der Gnade, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“.
„Marcelo Pérez war ein lebendiges Beispiel für
priesterliches Engagement für die Bedürftigsten und Schwächsten der
Gesellschaft. Sein pastorales Wirken, das sich durch seine Nähe zu den Menschen
und seine ständige Unterstützung für die Bedürftigsten auszeichnete,
hinterlässt ein Vermächtnis der Liebe und des Dienstes, das in den Her-zen all derer weiterleben wird, die er mit seinem Dienst
berührt hat“, so die Mexikanische Bischofskonferenz (CEM) in einer
Erklärung, die von ihrem Präsidenten Rogelio Cabrera López und ihrem
Generalsekretär Ramón Castro Castro unterzeichnet wurde..
„Der Mord an Marcelo beraubt die Gemeinde nicht nur eines
engagierten Pfarrers, sondern bringt auch eine prophetische Stimme zum
Schweigen, die unermüdlich für Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit in der
Region Chiapas gekämpft hat. Marcelo Pérez war ein lebendiges Beispiel für
priesterliches Engagement für die Bedürftigsten und Schwächsten der
Gesellschaft“, erklärte die CEM.
Die Bischöfe fordern außerdem, dass die Behörden „eine
umfassende und transparente Untersuchung durchführen, um dieses Verbrechen
aufzuklären und Pater Marcelo Pérez Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“,
dass sie „wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit der Priester und
der in der Seelsorge tätigen Personen zu ge-währleisten“,
und dass sie „ihre Anstrengungen im Kampf gegen die Gewalt und die
Straflosigkeit, die die Region Chiapas“ und das Land im Allgemeinen plagen,
ver-stärken.
Die Gesellschaft Jesu in Mexiko verurteilte den Mord
an Pater Marcelo Pérez Pérez, Pfarrer der Kirche von Guadalupe in San Cristóbal
de las Casas, auf das Schärfste. „Pater Marcelo ist seit Jahrzehnten ein
Symbol des Widerstands und der Begleitung für die Gemeinschaften von Chiapas
und verteidigt die Würde, die Rechte der Menschen und den Aufbau eines wahren
Friedens. Sein Engagement für Gerechtigkeit und Solidarität machte ihn zu einer
Referenz für diejenigen, die sich eine Zukunft ohne Gewalt und Unterdrückung
wünschen.
Wir lehnen jeden Versuch ab, diese Ereignisse als
Einzelfälle herunterzuspielen. Die organisierte Kriminalität hat in
verschiedenen Regionen des Landes Angst und Schmerz verbreitet, und Chiapas
bildet da keine Ausnahme. Die Gewalt in dieser Region spiegelt ein
strukturelles Problem wider, das eine umfassende und dringende Reaktion des
Staates erfordert.“, heißt es in der Erklärung des
mexikanischen Jesuitenordens.
Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrecht in
Mexico verurteilte das „völlig inakzeptable Verbrechen“ und forderte „die
Behörden auf, eine schnelle, um-fassende und wirksame Untersuchung
durchzuführen“.
Die neue mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum
erklärte, dass ihre Regierung bereits eine Untersuchung eingeleitet habe und
mit den Autoritäten der katholischen Kirche in Kontakt stehe.
Quelle: https://www.fides.org/, 21. 10.
24. „Fides“ ist der offizielle Nachrichtendienst der Päpstlichen
Missionswerke.
BUCHTIPP:
Pabst, Hans: Eine Reise ohne Wiederkehr.
Vom Verlies in den Behandlungssalon - Geschichte einer Befreiung. Spica
Verlag. Berlin 2024.
Wenn der Protagonist zu Beginn seines Werkes seine Herkunft
beschreibt, nennt er seinen Vater „Erzeuger“, seine Mutter „Gebärerin“
(beide zusammen sind „Nachkommen-Hersteller“) und den örtlichen Pfarrer
„Kirchturmwächter“. Die Irritation des Lesers ist bald erklärt: Es wird
eine Kindheit beschrieben, die keine ist. Am Bauernhof in einem kleinen Ort im
Mürztal gibt es nur kalte Distanz und nicht wärmende Nähe. Das erklärt die
sperrige kühle Sprache. Herrscher ist ein despotisch züchtigender Vater, der
eine große wortlose Familie anführt. Der Bauernhof ist eine „Arena“, die
nur den Kampf ums Überleben kennt und im späteren Leben als „Verlies“ in
seinem Inneren ihr Unwesen treibt. Die Trostlosigkeit setzt sich fort in der
Schule, in der der Rotstift regiert und weitere Schläge zu Hause auslöst. Von
dort die Flucht in ein Seminar in der Provinzhauptstadt, in dem der
priesterliche Nachwuchs herangebildet werden soll. Der körperlichen Züchtigung
folgt die geistige durch „professionelle Gottesversteher“.
Das Ziel, Priester zu werden, lässt er fallen, als er erste
befreiende Erfahrungen bei seinem Studium in Tübingen macht, wo der „Baum
der Erkenntnis“ steht, vermittelt von kompetenten Größen wie Ernst Bloch,
Gotthold Hasenhüttl oder Ernst Käsemann. Nach erlittener
streng-katholischer Ordnung folgt das Chaos, zu dem auch seine ersten
Begegnungen mit Frauen beitragen und das die Suche nach neuen Orientierungen
auslöst. Fiktive Dialoge und innere Monologe, die den Lesefluss manchmal stören
und etwas zu lang geraten sind – dokumentieren diesen Prozess, in dem die alten
entwürdigenden Bilder von der „Arena“ des Bauernhofs immer noch ihr
Unwesen treiben, auch in Beziehungen mit Frauen. „Er war noch nicht in der
Lage, aus dem Müll der frühen Jahre uneingeschränkten Gewinn zu ziehen.“
(S. 156)
In dieser Phase ist einerseits Aufräumen angesagt,
andererseits das Befriedigen der erwachten Neugierde, das Aufnehmen der Umwelt
mit allen Sinnen. Daran soll ihn auch nicht hindern, dass er im Kreis der „Gottesversteher“
in der neuen Rolle als Religionslehrer bleibt. Aber die Vergangenheit ist nicht
vergessen:
„Selbst wenn Aufräumarbeiten angesagt waren, kam ich nicht
herum, mich diesen frühen Ereignissen zu stellen, sie zu durchwandern und mich
danach zu erholen. Und das ging viele Jahre meines Lebens“ (S. 170).
Sein Wirken als Religionslehrer sieht er hauptsächlich als
„Brotwerwerb“, weniger als Berufung, er berichtet kaum über Erfolge, wie er die
Jugendlichen für das Christentum interessieren oder sogar begeistern konnte. Im
Gegenteil: Dieser Job wird für ihn zusehends mühsam und gesundheitsschädlich.
Außerschulisch wird er Leiter der „Soli-daritätsgruppe
engagierter Christen“ (SOG), die beim letzten Österreichischen Katholikentag
1983 ein sehr gut besuchtes Alternativprogramm mit den Professoren Norbert
Greinacher und Erwin Ringel auf die Beine stellt.
Es folgen die entscheidenden Kapitel dieser Reise, der „Einstieg
in die inneren Räume“. Deren Hauptprotagonist ist Sigmund Freud. Er fasziniert
ihn noch immer. Aber er macht keine Psychoanalyse, sondern begibt sich in eine
Runde von 15 Personen. Geistige Leitfigur ist Carl Rogers. Ob es eine
spezielle Ausbildung war oder eine Selbsterfahrungsgruppe, bleibt dahin
gestellt.
Schlüsselwörter für dieses „dritte Leben“ sind:
Unbedingte Wertschätzung, Empathie und Selbstverwirklichung,
Selbstaktualisierung, alternatives Männerbild, Auflösung der Sprachlosigkeit.
Die Klausuren waren Workshops. Sie waren immer intensiv und
niemand wusste, wann und in welch dunkles Verlies für wen diesmal die Reise
ging. Es war jeweils auch viel Flüssigkeit im Raum, die sowohl bei den selbst
Reisenden als auch bei den Näheren und Ferneren im Reiseabteil aus den Augen
floss. Alles in allem hatte jeder/jede von uns ein Verlies, in dem seine arme
Seele eingesperrt war und es klang so, als ob ebendiese arme Seele viele Jahre
genau auf diese Befreiungs- und Rettungsaktion ge-wartet
hätte (S. 223).
Während ihn sein Studium in Tübingen rational gesättigt
hat, holt er sich hier reichliche emotionale Nahrung, die ihn zu seinem letzten
mutigen Schritt motiviert, nämlich die Schule zu verlassen und Psychotherapeut
zu werden. Das „vierte Leben“ kann beginnen, nachdem er den richtigen
Gebrauch des „systemischen Werkzeug-Kastens“ (S. 311) eingeübt hat.
Die erhoffte Steigerung seiner Lebensqualität ist
eingetreten: Als „Freiberufler“ ist er sein eigener Herr und niemanden
Rechenschaft schuldig. Einzige Norm ist das Berufs-ethos, zu dessen Einhaltung
ihn seine Eintragung in der „Liste in Wien“ verpflichtet. Was Erfolg ist und
was nicht, melden ihm seine Kunden direkt oder indirekt zurück. Auf der letzten
Seite resümiert er zufrieden:
Viele Menschen sind in meinen Behandlungs-Salon im vierten
Stockwerk ohne Aufzug mit hängendem Kopf und traurigem Gesichtsausdruck
gekommen. Verlassen haben sie mich lachend, festen Schrittes, zuversichtlich (S. 347).
Einige Seiten vorher fragt er sich, was er davon hatte:
Wahrscheinlich habe ich von den Menschen, die den 4.Stock
erklommen haben, mehr gelernt als sie von mir. Vielleicht sind sie ohnedies
deshalb über einen längeren Zeitraum beharrlich zu mir gekommen, weil ein
Grundzug in jedem von uns darin besteht, für andere da zu sein (S. 311).
Das wäre zumindest eine emotionale Anknüpfung an Tübingen,
wo er den „Baum der Erkenntnis“ fand. Aber waren darunter auch Früchte,
die ihm Nahrung für seine erfüllendste berufliche Phase gaben? Der Bogen zurück
zu dieser Zeit fehlt mir. Was ist an die Stelle des verhassten Kruzifixes in
der Bauernstube getreten? Hat er vielleicht hinter der Fassade der
Kirchturmwächter Neues entdeckt, zum Beispiel ein alternatives Verständnis der
Praxis Jesu? Abschließend jenes Zitat, in dem er eröffnet, Psycho-therapeut werden
zu wollen und mit dem ein Bezug zu Tübingen zumindest herleitbar ist:
Umkehr und Metanoia im wörtlichen Sinn, zu neuen positiven
Werten, die darin bestehen, dass man sich von bedrückenden religiösen
Traditionen nicht nur abwendet, son-dern sie überwindet.
Das Diktum ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst` konnte ich so neu
interpretieren und auf eine humane Ebene stellen (S. 292).
Mag. Hans Döller, Jahrgang 1955, Studium der Theologie und
Germanistik an der Universität Innsbruck. Vor Hans Pabst Leiter der
„Solidaritätsgruppe engagierter Christen“ in den Achtziger Jahren.
Post-graduate Studium der Soziologie am Institut für Höhere Studien in Wien,
danach beruflich in der Arbeiterkammer Niederösterreich sowie im
Sozialministerium tätig. Jetzt im Ruhestand.