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KRITISCHES CHRISTENTUM

 

Nr. 470/471                     September/Oktober 2023

 

 

 

DER PUTSCH IN CHILE VOR 50 JAHREN

Von Adalbert Krims

Der 11. September 1973 gehört zu jenen Tagen in meinem Leben, die sich am tiefsten in meinem Bewusstsein verankert haben. An diesem Tag ist eine große politische Hoffnung zerstört worden – nicht nur für Chile selbst, sondern für Lateinamerika, ja die ganze Welt. Chile galt damals inter­na­tional als Vorzeigebeispiel für den „friedlichen Weg zum Sozialismus“, also eine grundlegende („revolutionäre“) Änderung der Gesellschaftsform oh­ne Anwendung von Gewalt. Und es war auch ein Vorzeigebeispiel für die Zusammenarbeit von Marxisten und Christen. Nicht zufällig ist im April 1972 in Santiago de Chile die lateinamerikanische Bewegung „Christen für den Sozialismus“ gegründet worden, die dann 1973 auch in meh­reren europäischen Ländern Fuß gefasst hat. Der 11. September 1973 hatte für mich aber auch eine persönliche Dimension: mehrere FreundIn­nen waren damals in Santiago tätig – und ich wusste tagelang nichts über ihr Schicksal… Es ist ihnen zum Glück nichts passiert, aber sie konnten ihre Arbeit in Chile, die sie ja als Unterstützung des „chilenischen Modells“ verstanden, nicht fortsetzen und kehrten im Laufe der nächsten Wochen nach Österreich zurück. Sie waren dann hier wichtige Motoren der breiten, Parteien und Ideologien übergreifenden Solidaritätsbewegung für Chile.

„Besonderheiten“ Chiles

Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern war Chile wirtschaftlich höher entwickelt und es hatte ein relativ stabiles bürgerlich-demo­kra­tisches System – inkl. einer starken Gewerkschaftsbewegung und linken Parteien. Während in vielen lateinamerikanischen Ländern Wahlen meist nur einen Wech­sel zwischen der Konservativen Partei (dominiert von den traditionellen Großgrundbe­sitzern) und der Liberalen Partei (do­mi­niert vom „modernen“ Kapital) bedeuteten, gab es in Chile bereits zwischen 1938 und 1952 eine Volksfrontregierung aus linksliberalen Ra­di­ka­len, Sozialisten und Kommunisten, die auch von der kleinen katholischen Falange unterstützt wurde. Aus der Falange heraus entstand 1957 die Christ­demokratische Partei (PDC), die sich innerhalb weniger Jahre zur größten Partei des Landes entwickelte und die von 1964 bis 1970 mit Eduardo Frei den Staatspräsidenten stellte. Die PDC verstand sich als Reformpartei auf Grundlage der katholischen Soziallehre, die einen „Dritten Weg“ jenseits von Kapitalismus und Sozialismus gehen wollte und mit dem Slogan „Revolution in Freiheit“ ope­rierte. Die PDC genoss auch die Un­ter­stützung breiter Kreise der katholischen Kirche – inkl. von Bischöfen. Unter der Regierung Frei erwarb der chilenische Staat die Mehrheit der Kup­fergesellschaften und es wurde auch mit einer Agrarreform begonnen.

Innerhalb der Christdemokraten gab es aber auch Kritik am zu geringen Reformtempo sowie an der US-freundlichen Haltung von Präsident Frei. Ein Teil des linken Flügels der PDC spaltete sich deshalb 1969 ab und gründete die MAPU (Bewegung für vereinigte Volksaktion), die sich 1970 dem linken Parteienbündnis Unidad Popular anschloss, das bei der Präsidentschaftswahl am 4. September den Sozialisten Salvador Allende als ge­meinsamen Kandidaten aufstellte. Um dem Verlust an die Linke entgegenzuwirken, stellte die PDC ihrerseits einen Kandidaten ihres linken Flü­gels auf: Radomiro Tomic. Für die weit rechts stehende Nationalpartei trat Jorge Alessandri an, der bereits von 1958 bis 1964 Präsident gewesen war. Das Ergebnis war durchaus knapp: Allende 36,6 %, Alessandri 34,9 % und Tomic 27,8 Prozent. Nach­dem keiner der Kandidaten die absolute Mehr­heit erhielt, musste es nach der chilenischen Verfassung zu einer Stichwahl der beiden Erstgereihten durch das Parlament kommen, wobei die Christ­demokraten schon zuvor erklärten, den stimmenstärksten Kandidaten zu unterstützen.

Wie inzwischen aus Dokumenten bekannt ist, versuchten die USA, die Wahl Allendes zu verhindern, indem sie einerseits Druck auf die Christ­de­mo­kraten ausübten, andererseits aber auch ihre militärischen und geheimdienstlichen Kontakte einsetzten. So gab es Mitte September 1970 in Washing­ton Treffen sowohl von CIA-Chef Richard Helms als auch von Präsident Richard Nixon mit Augustin Edwards, dem Besitzer der rechten chi­lenischen Mediengruppe „El Mercúrio“, bei denen es um einen Geheimplan zur Verhinderung der Wahl Allendes durch eine Machtübernahme der Armee und die Auflösung des Parlaments ging. Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General René Schneider, der den Christdemokraten na­he­stand und jegliches Eingreifen des Militärs in die Politik ablehnte, wurde zwei Tage vor der Wahl im Parlament in einer von den USA un­ter­stütz­ten Geheimdienstoperation entführt und angeschossen. Er verstarb einen Tag nach der Wahl. Die Christdemokraten hielten jedenfalls ihr Ver­spre­chen und stimmten schließlich bei nur wenigen Enthaltungen für den Sozialisten Allende.

Die Jahre der Unidad Popular

Chile ist zwar eine Präsidialrepublik, in der der Staatspräsident große Entscheidungsvollmachten hat, dennoch ist er bei der Gesetzgebung von der Par­la­mentsmehrheit abhängig. Allende war somit auch auf Stimmen aus der Opposition angewiesen. Bei einigen Vorhaben stimmten die Christ­de­mo­kraten zu – bei der Verstaatlichung des Kupferbergbaus sogar alle Parlamentsparteien.

Im Jahr 1971 erreichte die Unidad Popular bei den Kommunalwahlen knapp 50 Prozent der Stimmen, was auch Ausdruck der Popularität der Re­gierung war. Gleichzeitig formierten sich aber die Gegner – innerhalb und außerhalb des Landes. Im Parlament gingen die Christdemokraten stär­ker auf Oppositionskurs, was im Oktober 1971 zu einer weiteren Linksabspaltung (Izquierda Cristiana – Christliche Linke) führte. Die neue Par­tei, der auch mehrere christdemokratische Abgeordnete angehörten, trat in die Regierung ein, was aber trotzdem für eine Mehrheit im Parlament nicht ausreichte. Im Oktober 1972 legte ein fast einmonatiger Streik der Lastwagenbesitzer Chile lahm, der von der CIA finanziell unterstützt wurde und dem sich auch andere Berufsgruppen und die Opposition anschlossen. Der Boykott der USA verschärfte noch zusätzlich die wirtschaftlichen Pro­bleme des Landes.

Aber auch im Regierungslager ta­ten sich Widersprüche bezüglich der weiteren Strategie auf. Während ein Teil der Unidad Popular (allen voran die Kommunistische Partei und ein Teil der Sozialistischen Partei) einen Kompromiss mit den Christdemokraten finden wollte, um die Reformen po­litisch abzusichern, drängte ein anderer Teil auf die Mobilisierung der Massen, um die Straßen nicht der Opposition zu überlassen. Die außerhalb der Unidad Popular stehende „Bewegung der Revolutionären Linken“ (MIR) verlangte sogar die Bewaffnung von Volksmilizen, um den revo­lutio­nä­ren Prozess gegen die Reaktion zu verteidigen. Diese strategischen Differenzen auf der Linken waren für Allende eine zusätzliche Belastung, wo­bei er sich dafür verbürgte, dass die Regierung niemals den Weg der Verfassung verlassen oder gar Gewalt anwenden würde.

Trotz der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage hielt sich die Unidad Popular bei den Parlamentswahlen am 4. März 1973 recht gut, vor allem die Sozialisten gewannen stark dazu. Die Christdemokraten verloren zwar, blieben aber stärkste Einzelpartei. Und da die Opposition ge­meinsam kandidierte, kam sie zusammen auf 55 Prozent, während die Unidad Popular ihr Ergebnis von 1969 (44 Prozent) halten konnte, aber deut­lich unter der absoluten Mehrheit blieb. Da die Mehrheitsverhältnisse im Parlament also im wesentlichen gleich blieben und die Christ­de­mo­kra­ten eine Unterstützung der Regierung ablehnten, gab es praktisch eine Pattsituation: der Opposition fehlte die notwendige Zweidrittelmehrheit, um den Präsidenten auf legale Weise abzusetzen – andererseits fehlte der Regierung die absolute Mehrheit, um alleine Gesetze beschließen zu kön­­nen.

In dieser Situation bemühte sich u. a. der Erzbischof von Santiago, Kardinal Raúl Silva Henriquez, die Christdemokraten zum Eintritt in die Regie­rung zu bewegen. Allerdings hatte deren Führung damals schon andere Pläne. Sie dachte, dass ein Sturz der Regierung durch das Militär und Neu­wahlen nach einer Übergangszeit sie wieder zurück an die Macht bringen würde. In den USA bemühte sich Sicherheits­berater (ab 28. 8. 73 Außen­minister) Henry Kissinger persönlich um Kontakte zu chilenischen Generälen. Nach einem gescheiterten Putschversuch eines Obersts am 29. Juni 1973 zeigte sich die Heeresführung noch loyal zu Allende, der im August die Chefs der vier Waffengattungen ins Kabinett berief und den Ober­kommandierenden, General Carlos Prats, zum Verteidigungsminister machte. Allerdings traten sie nach einem Misstrauensvotum des Parla­ments Ende August zurück, wobei General Augusto Pinochet an die Stelle von General Prats als Chef des Heeres aufrückte.

Putsch und Militärdiktatur

Schließlich kam es am 11. September zum Militärputsch und die Oberkommandierenden aller Waffengattungen ernannten sich zur Regierungsjunta un­ter Vorsitz von General Pinochet, der bis zum letzten Moment nach außen hin loyal zu Allende stand. Während in Santiago der Präsidentenpalast zu­erst bombardiert und dann besetzt wurde, liefen im ganzen Land Massenverhaftungen von Anhängern der Unidad Popular. Unmittelbar nach dem Putsch gab es die meisten Opfer, sowohl von Folterungen wie von politischen Morden. Allein am 11. September wurden 2.131 Menschen aus po­litischen Gründen verhaftet, bis Ende des Jahres waren es 13.364. 43 % der Opfer wurden von Carabineros (Polizisten) verhaftet und weitere 30 % von Soldaten des Heeres (der Rest meist von Angehörigen von Luftwaffe und Marine oder Geheimdiensten). Opfer waren vor allem Mitglieder und Sympathisanten von Regierung, Linksparteien und Gewerkschaften. Öffentliche Gebäude wie Stadien, Konferenzhallen und Schulen wurden zu Lagern umgerüstet. Der bekannteste Fall ist das Nationalstadion, in dem alleine mehr als 40.000 Gefangene zusammengetrieben worden sind. Vie­le von ihnen wurden gefoltert und getötet. Insgesamt wurden vermutlich etwa 3197 (gesicherte Anzahl der Opfer) bis 4000 Menschen während der Diktatur ermordet, der Großteil davon in den Wochen nach dem Putsch. Etliche Menschen verschwanden spurlos und auf bis heute ungeklärte Wei­se. Etwa 20.000 Menschen flohen noch 1973 ins Ausland.

Detail am Rand: Unmittelbar nach dem Militärputsch gratulierten sich US-Präsident Richard Nixon und sein inzwischen zum Außenminister auf­ge­­stiegene ehemalige Sicherheitsberater Henry Kissinger gegenseitig. „Zu Eisenhowers Zeiten wären wir wie Helden behandelt worden“, merkte Kis­singer damals an. Obwohl die Involvierung der US-Regierung und der CIA in Vorbereitung und Durchführung des Militärputschs längst durch Do­kumente belegt ist, gibt es immer noch Aufklärungsbedarf. Deshalb hat der chilenische Botschafter in den USA und ehemalige christ­de­mo­kra­ti­sche Außenminister (1999 - 2000), Juan Gabriel Valdés, anlässlich des 50. Jahrestages des Putschs US-Präsident Joe Biden formell aufgefordert, alle Unterlagen aus den Jahren 1973 und 1974 freizugeben, die sich auf die Haltung des damaligen US-Präsidenten zu Vorbereitung und Durch­füh­rung des Putschs sowie zur Militärjunta beziehen. „Es gibt Details, die uns interessieren. Sie sind wichtig, um unsere eigene Geschichte zu re­kon­stru­ieren“, sagte Valdés.

Chile galt bis 1973 in Lateinamerika als „Musterdemokratie“. Mit dem Putsch kippte es in das Gegenteil: Chile wurde zur „Musterdiktatur“. Zwar gab es in Lateinamerika schon vorher Militärdiktaturen (wie in Argentinien, Brasilien oder Uruguay), doch keine erreichte eine solche „Perfektion“ in der Verbindung von faschistischer und neoliberaler Konterrevolution, die dann 1980 noch durch die neue Verfassung institutionalisiert und ab­gesichert wurde. Während die erste Phase der Pinochet-Diktatur vor allem durch ihre Grausamkeit bekannt war, wurde sie später zum La­bo­ra­to­ri­um für die Konzepte der sog. „Chicago-Boys“, also jener jungen radikalen Ökonomen, die an der University of Chicago studiert hatten und die mo­netaristischen Theorien ihrer Gurus Milton Friedman und Friedrich August von Hayek ab 1975 in Chile ausprobieren durften. Sie stellten die Wirt­schafts- und Finanz­minister sowie den Chef der Zentralbank. Sie unterzogen Chile einer „Schocktherapie“ im Sinne einer neoliberalen Wirt­schafts­doktrin. Ohne demokratische Kontrolle und ohne Rücksicht auf Fragen der Menschenrechte oder der Versorgungslage der Bevölkerung mach­ten sie Chile zu einem Experimentierfeld für weitgehende Deregulierungs- und Privatisierungskonzepte.

Auch nach dem Ende der Pinochet-Diktatur und der Wiedereinführung der Demokratie blieben die Strukturen des Neoliberalismus erhalten. Insofern war der Putsch vom 11. September 1973 nicht nur ein blutiger Machtwechsel, der nach dem Ende der Diktatur wieder rückgängig gemacht werden kann, sondern er hat Chile nachhaltig verändert. Auch die letzten Jahrzehnte demokratischer Entwicklung haben den Bruch mit dem Pinochet-Erbe (noch) nicht geschafft, wie das jahrelange Ringen um eine neue Verfassung bestätigt. Das klare „Nein“ beim Verfassungsreferendum im September 2022 war zudem ein schwerer Rückschlag im Kampf um ein demokratisches, sozial gerechtes und ökologisches Chile!

Christen und Kirche

Der Wahlsieg Allendes 1970 wäre nicht möglich gewesen, wenn es in den Jahren zuvor nicht zu entscheidenden Veränderungen im „christlichen La­ger“ gekommen wäre. Damit sind nicht nur linke Tendenzen bis hin zu Abspaltungen in der Christdemokratie gemeint, sondern vor allem die Pro­zesse in der katholischen Kirche nach der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín 1968 (Stichworte: „Option für die Armen“, „Theo­logie der Befreiung“). In Santiago besetzten im August 1968 200 junge Menschen und Priester die Kathedrale und forderten eine klare Hin­wen­dung der Kirche zu den Armen. Die Gruppe nannte sich „Junge Kirche“.

Ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg Allendes versammelten sich im April 1971 in Santiago 80 Priester und veröffentlichten eine Erklärung, in der sie sich zur Überwindung der Klassengesellschaft und zum Sozialismus bekennen. Auch der peruanische Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez war dabei. Auch der österreichische Priester und Mitbegründer der AKC, Herbert Berger, der damals in Chile war, nahm an dem Treffen der „Gruppe der 80“ teil. Die Erklärung wurde aber von der chilenischen Bischofskonferenz zurückgewiesen, doch die Professoren der Katholischen Uni­­versität von Santiago solidarisierten sich mit ihr. Ein Jahr später, im April 1972, fand in Santiago der 1. Lateinamerikanische Kongress der Christen für den So­zialismus statt. Rund 400 Vertreter aus ganz Lateinamerika sowie Beobachter aus den USA und Europa berieten eine Woche lang über die soziale und politische Lage in Lateinamerika und die Herausforderung an die Christen. Der mexikanische Bischof Sergio Méndez Arceo von Guernavaca er­klärte: „Für unsere unterentwickelte Welt gibt es keine andere Lösung als den Sozialismus.“ Im Schlussdokument hieß es wörtlich: „Der So­zia­lis­mus ist die einzige annehmbare Alternative zur Überwindung der Klassengesellschaft“.

Die „Christen für den Sozialismus“ stießen aber bei der Bischofskonferenz auf Ablehnung und es gab Repressionen vor allem gegen Priester, die sich zu ihnen bekannten. Im April 1973 beschloss die chilenische Bischofskonferenz ein internes Dokument, in dem die „Christen für den So­zia­lis­mus“ ausdrücklich verurteilt wurden. Dieses Dokument wurde aber erst wenige Wochen nach dem Putsch öffentlich bekannt. Dazu schrieb Herbert Berger: „Die sicherlich nicht beabsichtigte Folge war, dass die Schergen Pinochets alle Mitglieder dieser Bewegung als Freiwild betrachteten. Drei Prie­ster wurden in den ersten Monaten ermordet, andere später, über hundert mussten das Land verlassen (darunter auch Herbert Berger – Anm.), un­zählige Christinnen und Christen wurden gefoltert, in Konzentrationslager gebracht oder ermordet.“

Der Putsch selbst wurde von der Bischofskonferenz nicht verurteilt. Erst zwei Tage danach äußerte sie ihr Bedauern über die Toten, ohne aber die Tä­ter klar zu benennen. Offenbar waren sich die Bischöfe damals nicht einig: einige befürworteten das Einschreiten des Militärs, die Mehrheit dach­te wohl, dass sich die Militärs nach einigen Monaten wieder in die Kasernen zurückziehen und es zur Rückkehr zur Demokratie kommen wür­de. Erst nach einigen Wochen, als das ganze Ausmaß der Ermordungen, Verschleppungen und Folterungen deutlich wurde, engagierte sich auch die „offizielle“ Kirche für die Opfer. Anfang Oktober 1973 wurde in Santiago mit ausdrücklicher Unterstützung von Kardinal Raúl Silva Henriquez un­ter dem Vorsitz des katholischen Weihbischofs Fernando Ariztia und des evangelisch-lutherischen Bischofs Helmut Frenz das „Komitee für Zu­sammenarbeit für den Frieden in Chile“ gegründet. Dieses Komitee engagierte sich bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, aber auch bei der medizinischen Versorgung und sozialen Hilfe für Opfer der Repression. Bald wurde aber auch das „Komitee für den Frieden“ selbst zum Ziel der Repression: Dem Ko-Vorsitzenden, Bischof Frenz (deutscher Staatsbürger), wurde im Oktober 1975 die Wiedereinreise nach Chi­le verboten, der Leiter der Rechtsabteilung und mehrere mitarbeitende Priester wurden inhaftiert. Am 11. November 1975 schrieb General Pi­nochet einen Brief an Kardinal Silva, in dem er ihn aufforderte das „Komitee für den Frieden“ aufzulösen, weil dieses „ein von Marxisten-Le­ninisten eingesetztes Mittel ist, um Proble­me zu schaffen, die die Ruhe der Bürger beeinträchtigen“. Der Kardinal kam zwar der Aufforderung nach, gründete aber gleichzeitig innerhalb der Erzdiözese das „Vikariat der Solidarität“, das eine unmittelbare Einrichtung der katholischen Kirche war und de facto die Aufgaben des Komitees weiterführte. Außerdem gab das Vikariat alle zwei Wochen die Zeitschrift „Solidaridad“ heraus, die die staatliche Zensur durchbrach und neben internationalen und nationalen Nachrichten auch Listen von verschwundenen Personen veröffentlichte.

Insgesamt war also das Verhältnis der katholischen Kirche zum Pinochet-Regime ambivalent. Die Christen, die Widerstand leisteten, konnten nur zum Teil Verständnis oder gar Schutz von der Kirchen­leitung finden. Aber immerhin kümmerte sie sich – vor allem in der Erzdiözese Santiago – um die Opfer der Repression und dokumentierte auch die Verbrechen der Junta.

Schlussbemerkung

Inzwischen ist Chile längst zur lateinamerikanischen „Normalität“ zurückgekehrt. Es wird wieder demokratisch gewählt. Präsidenten und Parla­ments­mehrheit wechseln zwischen rechts und links. Wirtschaftlich steht Chile sogar besser da als die meisten anderen latein­amerikanischen Länder – den­noch gehört es zu den Ländern mit der größten Ungleichheit. Und die mehr als 2 Millionen Armen haben nichts davon, wenn das Durch­schnitts­einkommen in Chile höher ist als in den Nachbarländern. Der Militärputsch ist nun 50 Jahre vorbei und die große Mehrheit der Chilenen kennt ihn nur aus Erzählungen oder Büchern. Bei uns „im Westen“ ist der 11. September außerdem längst überlagert durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York. Vorbei sind aber auch die Hoffnungen, dass Chile einen anderen Weg geht als die anderen Staaten Latein­ame­rikas. Der „friedliche Weg zum Sozialismus“ ist Geschichte. Trotz seiner Probleme und Widersprüche ist er nicht „gescheitert“, sondern er wur­de zum Scheitern gebracht, weil er einfach nicht gelingen durfte. Und dies geschah vor allem durch das indirekte und sogar direkte Eingreifen je­nes Imperiums, das bis heute von vielen als „Garant unserer Freiheit“ bezeichnet wird. Für uns Zeitzeugen und Aktivisten der Chile-Solidarität bleibt der 11. September 1973 ein bitterer Tag, an dem Hoffnungen zerstört wurden. Und es war auch ein Tag, an dem Begriffe wie „Freiheit“, „westliche Werte“ etc., die heute wieder in aller Munde sind, desillusioniert und dauerhaft entwertet.

 

 

OTTO MAUER – EIN PFINGSTLICHER SEELSORGER UND MONSIGNORE

 

Erinnerungen an seinem 50. Todestag

 

von Alfred Kirchmayr

 

Kunst wäscht den Staub des Alltags von den Augen.“ (Pablo Picasso).

 

„Die kommende Welt wird eine brüderliche, teilende und mitfühlende sein müssen, oder sie wird sich selbst vernichten!“ (Otto Mauer 1959, angesichts des Kalten Krieges).

 

Pfingsten ist immer! Löscht den Geist nicht aus!

 

Am Pfingstsonntag 1966 wanderte ich bei herrlichem Frühlingswetter von meinem Studentenquartier am Roten Berg in die Innenstadt. Als ich in die Nähe der Kirche „Am Platz“ in Hietzing kam, vernahm ich die geniale Kurzfassung einer Theologie des Heiligen Geistes, gesprochen von der mir sehr vertrauten und markanten Stim­me des Dompredigers Msgr. Otto Mauer: „Pfingsten war gestern! Pfingsten ist heute! Pfingsten ist immer!“

 

Doch Pfingsten ist ein gefährliches Fest für Ideologen aller Couleurs. Pfingsten ist Herausforderung aus allen fertigen Gottes- und Menschenbildern, Kirchen- und Gesellschaftsbildern. Pfingsten ist der Geist christlicher Metanoia, ist Umkehr und Neubeginn, immer wieder, immer wieder, immer wieder neu. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich Mauers sprühenden Geist von 1963 bis zu seinem Tod 1973 sehr oft genießen durfte.

 

Am 14. Februar 1907 erblickte Otto Mauer als einziges Kind eines Bankbeamten in Brunn am Gebirge in Niederösterreich das Licht und die Dun­kelheit der Welt. Schon in Kindertagen sammelte er Kunstdrucke. Als Sechzehnjähriger wurde er Mitglied des Christlich-Deutschen Stu­den­ten­bundes. Aus diesem bildete sich die katholische Jugendbewegung „Bund Neuland“.

 

Gegründet wurde diese kreative Organisation von zwei Priestern: vom Studentenseelsorger und Begründer des Wiener Seelsorgeamtes Karl Rudolf, und von Michael Pfliegler, der später den Lehrstuhl für Pastoraltheologie in Wien bekam und Ferdinand Klostermann zu seinem Nachfolger nur knapp durchsetzen konnte. Pfliegler förderte die Zusammenarbeit mit den religiösen Sozialisten und wurde deshalb von den herrschenden Stu­ben­hocker­theologen energisch abgelehnt. Die Begeisterung für die katholische Jugendbewegung „Bund Neuland“ und sein Engagement für eine echt christliche Kirche hat Mauers Leben geprägt.

 

Ein begeisterter „Neuländer“

 

Denn das Engagement der „Neuländer“ galt einer geerdeten christlichen Spiritualität und dem Einsatz für eine humane und aufgeklärte Gesellschaft. Aus dieser Bewegung kamen viele kreative Persönlichkeiten wie Kardinal Franz König, Ferdinand Klostermann und Max Weiler.

 

Gemeinsam mit dem späteren Domprediger Karl Dorr, verbrachte Mauer das zweite Jahr seines Theologiestudiums in Münster. Beide reisten durch Deutsch­land und lernten die Jugendbewegung Quickborn kennen. Der Name ist Programm: Lebendiges Quellwasser statt abgestanden-faules Was­ser! Neben neuen Formen der Seelsorge und Liturgie lernten sie auch Arbeiterpriester in Frankreich kennen. Nach der Priesterweihe 1931 war Mau­er drei Jahre lang Kaplan und Religionslehrer in der sozialistischen Gemeinde Schwechat. Vom ersten Gehalt als Kaplan kaufte er einen Fuß­ball für die Buben. Die Wende zum Austrofaschismus setzte ihm so zu, dass er einen Nervenzusammenbruch erlitten hat.

 

Christliche Mündigkeit statt Vermassung

 

Als Religionsprofessor an der Lehrerbildungsanstalt in Strebersdorf hat er den täglichen, klassenweisen Messbesuch ebenso abgeschafft wie das Ver­bot, Konzerte und Theateraufführungen nach persönlicher Wahl zu besuchen. Der reaktionäre Präsident des Stadtschulrates und Dollfuss-Ver­ehrer Robert Krasser war über Mauer wütend, weil er lehrte, dass das eigene Gewissen die letzte moralische Entscheidungsinstanz sei. Er setzte ihn gegen alle Regelungen einfach ab.

 

Vom September 1936 bis zum 31. 3. 1938 war Mauer Kaplan in Berndorf und Religionsprofessor am Arthur-Krupp-Gymnasium. Einen Tag nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich wurde Mauer vom neuen Nazi-Bürgermeister in Bern­dorf vorgeladen. Da saßen drei Männer im Gemein­de­amt: der Bürgermeister, ein SS-Mann mit Stahlhelm und Pistole und Otto Mauer. Der SS-Mann drohte Mauer, ihn zu erschießen, wenn er das Gym­nasium noch einmal betreten sollte!

 

Mit Bibel und Zahnbürstel unterwegs

 

In den Jahren 1938 – 1945 war Mauer stets mit Bibel und Zahnbürstel unterwegs, weil er immer wieder von der Gestapo verhört und verhaftet wurde. Mauer wohnte in der Pfarre St. Josef in der Kar­melitergasse im Zweiten Bezirk, wo er seine berühmten Bibel­abende abgehalten hatte. Diese wurden ein Zentrum des Widerstandes gegen das NS-Regime. 1941 wurde Mauer vom Leiter des Seelsorgeamtes Karl Rudolf zum Ordi­na­tionsrat ernannt. Er war für „Religion, Kultur und Akademikerseelsorge“ zu­stän­dig. Im Gestapoakt wurde er als der „intransigenteste Feind des Regi­mes“ bezeichnet.

 

„Kommen Sie mit oder soll ich mitkommen?“

 

Im Mai 1942 wollte ihn die Gestapo vor seiner Predigt in der Sakristei des Domes von Graz abführen. Mauer gab den SS-Männern kühl zu bedenken, dass im Dom 4000 Menschen Trost suchen, wo Söhne und Väter im Krieg kämpfen. Ein Kanoniker wird auf die Kanzel steigen und sagen, dass der Prediger eben verhaftet wurde. Wollen Sie das wirklich? Die SS-Männer waren verunsichert, ließen Mauer predigen und verhörten ihn danach fünf Stunden lang. Das Protokoll musste Mauer selbst schreiben, weil die schwarzen Männer dazu nicht fähig waren. Das erinnert an den Ka­ba­ret­ti­sten Werner Fink in Berlin, der eben in dieser Zeit oft von der Gestapo verhört wurde. Als er auf der Bühne stand und sah, dass zwei SS-Männer mit­schrieben, sagte er zu den beiden: „Kommen Sie mit? Oder soll ich mitkommen?“

 

„Wort und Wahrheit“ statt Angst und Dummheit!

 

Bereits 1946 gründete Mauer „Wort und Wahrheit, die Monatsschrift für Religion und Kul­tur“. Sie war die beste intellektuell-kulturelle katholische Zeitschrift, die Österreich je hatte. Im Auftrag von Kardinal Innitzer hat Mauer die „Katholische Aktion“ (KA) als Laienbewegung unter Mitarbeit von Ferdinand Klostermann systematisch auf­ge­baut. Und 1947 kam es auch zur Grün­dung des „Katholischen Akademikerverbandes“ (KAV), mit Mauer als Geistlichem Assistenten. Das Katholische Bildungswerk, dessen geistlicher Assistent und Spiritus Rektor Otto Mauer war, wurde 1955 gegründet.

 

„Wider die Verelendung des Volkes!“

 

Im September 1952 fand der erste österreichische Katholikentag in Wien statt. Die zwei Leitsätze waren vom Esprit Otto Mauers geprägt: „Freiheit und Würde des Menschen“, und „eine freie Kirche in einem freien Staat“. Mauer trat auch für eine Trennung von Kirche und ÖVP ein, was ihm vie­le Feinde brachte. Bruno Kreisky hatte Mauer sehr geschätzt, weil er ähnlich wie Kardinal König die Vereinnahmung durch die ÖVP energisch ab­gelehnt hat. An der Abschlusskundgebung am Heldenplatz nahmen etwa 250 000 Menschen teil.

 

Mauer sprach dort in seiner Abschlussrede politisch Klartext: „Schafft Wohnungen, darin sich menschenwürdig wohnen lässt, darin Kinder zur Welt kommen und aufwachsen können. Bietet Raum einem jungen Volk. Besser Wohnhäuser bauen als Parteiheime und bürokratische Paläste. Ver­hindert die Verelendung des Volkes. Reduziert die Luxuslimousinen der Beamten und schafft Existenzraum … rettet den Mittelstand …treibt Fa­milienpolitik statt Interessenspolitik.“ Weil er Thema und Gestaltung dieses Ereignisses wesentlich mitbestimmt hat, erhielt er 1953 den Titel Mon­signore verliehen. Und er war und blieb „der Monsignore!“, der „Feuer heißen sollte, nicht Mauer“, wie Kardinal Innitzer damals zu ihm sagte.

 

Wortgewaltiger Domprediger und Kunstförderer

 

Im Jahr 1954 wurde Mauer zum Domprediger von St. Stephan ernannt. Und damals gründete er seine international bedeutsame „Galerie St. Ste­phan“ in der Grünangergasse 1., später „Galerie nächst St. Stephan“. In diesem Zentrum der Avantgarde der modernen Kunst fanden neben Aus­stel­lungen auch Dichterlesungen, Musikabende und Diskussionen zu aktuellen Themen statt. Mauer war ein Entdecker und Förderer junger Künst­ler, wie Wolfgang Hollegha, Josef Mickl, Markus Prachensky und Arnulf Rainer. Vor allem die abstrakte Kunst und der Expressionismus fas­zi­nier­ten Mauer. Als er sich in den 50er-Jahren für die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Bert Brecht eingesetzt hatte, gab es im erz­katholischen Österreich massive Kritik.

 

Der Geist des Konzils und Struktur gewordene Berührungsangst

 

Durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) kam es vorübergehend zu einem Aufbruch in der Katholischen Kirche, die mehr als 100 Jahre lang im antimodernistischen Winterschlaf erstarrt war. Mauer schrieb 1966: „Unbewältigte ­Vergangenheit ist schlimm, unbewältigte Ge­gen­wart schlimmer!“ Weithin ist diese Kirche Struktur gewordene Berührungsangst vor dem wirklichen Leben wirklicher Menschen und vor der be­freienden Botschaft Jesu. Mauer hasste alles Geistlose und die in unseren Landen so verbreitete Schlafmützigkeit. Seine ausgeprägte Sensibilität äußerte sich in Geistesgegenwart, Neugier und Kreativität. Treffend ist sein Verständnis von Bildung: „Bildung ist jener Vorgang, durch den ein Mensch von Menschen veranlasst wird, Mensch zu werden“.

 

Prophetischer Mut und Zorn

 

Anlässlich seines 60. Geburtstags schrieb der damalige KATHPRESS-Chefredakteur Richard Barta: „Die politische Macht hat ihn immer mit etwas Miss­trauen betrachtet.“ Und 1970 sagte Mauer: „Die katholische Kirche ist die größte Organisation von Atheisten in Österreich!“ Angesichts einer christ­lichen Partei, deren Politik weithin unchristlich war und ist, sagte er 1970: „Es gibt keine entartete Kunst, das wäre nämlich Nichtkunst. Aber es gibt eine entartete Gesellschaft, in der menschlich zu leben kaum möglich ist. Sie kann nur aufgrund prophetischen Zornes, aus ethischem An­trieb geändert werden“.

 

Und der große Förderer von Künstlern und Kunst sagte: „Vielleicht sind die Propheten in diese Künstler abgewandert, in die Goya, Daumier, Georges Grosz, weil die Kirche keine Propheten mehr geduldet hat.“ Mauers große Kunstsammlung befindet sich im Erzbischöflichen Dom- und Diö­zesanmuseum, wo immer wieder Ausstellungen der Sammlung Mauer zu gezielten Themen stattfinden.

 

Am 3. Oktober 1973 starb Otto Mauer 67jährig völlig überraschend an einem Lungeninfarkt. Begraben ist er im Familiengrab von Brunn am Ge­birge. Auf dem Grabstein, gestaltet nach Plänen von Fritz Wotruba, stehen drei essenzreiche Worte: „Priester / Mahner / Tröster.“

 

Alfred Kirchmayr, DDr., Theologe und Psychotherapeut, war enger Mitarbeiter des Konzilstheologen Ferdinand Klostermann und des „Psychiaters der Nation“ Erwin Ringel. Mitarbeit an zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen. Unterrichtet an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien. Seit Jahrzehnten auch „KC“-Autor.

 

Literatur über Otto Mauer:

 

Böhler, Bernhard A. (Hrsg.): Happy Birthday Monsignore. Zum 100. Geburtstag von Monsignore Otto Mauer. Förderer moderner Kunst in Österreich nach 1945. Wien 2007.

Metanoia. Zum 30. Todestag von Monsignore Otto Mauer. Werke aus seiner Sammlung. Herausgeber: Erzbischöfliches Dom- und Diözesanmuseum, Wien 2003

 

 

BUCHTIPP:

 

Franz. J. HINKELAMMERT: Utopie - Mythos - Religion. Von der Kritik der Moderne zum Humanismus der Praxis. Luzern: Exodus, 2023. 350 Seiten, € 31,90.

 

Ein grandioses Alterswerk des am 16. Juli 2023 im Alter von 91 Jahren verstorbenen Franz Hinkelammert, dessen Reichtum an Inhalt und sprachlichen Formulierungen unmöglich in einer kurzen Rezension wiederzugeben ist. Bei der Lektüre denkt man immer wieder: selten habe ich ein Buch gelesen, das so klar und überzeugend Bonhoeffers „nicht-religiöse“ Interpretation biblischen Glaubens betreibt. Und dann fasst er im Schlussabschnitt sein ganzes Werk tatsächlich mit Bonhoeffers Reflexionen zur Transzendenz Gottes „mitten im Leben“ zusammen: „Christsein als Menschsein für andere“, in Begriffen von Marx: der Humanismus der Praxis.

 

Der I. Teil des Buches ist eine Neuauflage des früheren Buches „Gott wird Mensch und der Mensch macht die Moderne. Zur Kritik der mythischen Ver­nunft in der abendländischen Geschichte. Ein Essay“. Luzern: Edition Exodus, 2021. Dazu verweise ich auf meine Rezension in „Kritisches Chri­stentum“, (Nr. 452/453, November/Dezember 2021, S 27 ff.). Der II. Teil bringt dann „Erweiterungen“ zu den Themen des I. Teils unter dem Ti­tel „Die wahre Welt als perfekte Welt der empirischen Wissenschaften und ihre Kritik“.

 

Der III. Teil ist eine „Hommage an Franz J. Hinkelammert. Der Versuch, das Werk eines großen Denkers zu würdigen“ von Kuno Füssel. Um dies gleich vorweg zu nehmen: Es empfiehlt sich für LeserInnen, die mit Franz Hinkelammerts Denken noch nicht vertraut sind, diese Gesamtinter­pre­ta­tion seines Werkes als erstes zu lesen. Denn dadurch wird dieses letzte Werk in Bezug zum gesamten Lebenswerk verständlich. Füssel beginnt mit dem biografischen Kontext Hinkelammerts zwischen Europa und Lateinamerika, gefolgt von einer Interpretation des grundlegenden Werks: „Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus“. Dann bietet Füssel eine Darstellung und Interpretation der drei Kritiken: Kritik der utopischen Vernunft, Kritik der mythischen Vernunft und „Kritik des Kapitalismus als höchstes Stadium der Religionskritik“. Viertens bespricht er die biblisch-theologisch fundierten Interventionen in den Diskurs zur Moderne und zum Schluss den „Huma­nis­mus der Praxis oder Wege zu einer neuen Lebenswirklichkeit“. Nun aber zum II. Teil des Buches aus der Feder Franz Hinkelammerts.

 

1. geht es um die Kritik der Vernunft in der abendländischen Geschichte. Er sieht zwei Grundprobleme, die er dann in den weiteren Abschnitten ent­faltet. Die Menschenrechte für alle sieht er zuerst formuliert von Jesus und Paulus (Im Messias „gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklave und Freie, Mann und Frau“, Gal 3.28). Nach diesen Kriterien der Nichtdiskriminierung soll eine andere Gesellschaft aufgebaut werden – soweit wie möglich. Dieser Ansatz wird durch die konstantinische Wende 312 zum imperialisierten Christentum ins Gegenteil verkehrt – in die Legi­ti­ma­tion von Macht, bricht aber immer wieder durch wie z. B. in den Bauernkriegen. Säkularisiert zeigt er sich in den ursprünglichen englischen und fran­zösischen Volksrevolutionen, wird dann aber in beiden Fällen durch die Umkehr in bürgerliche Revolutionen entdemokratisiert. Heute ist die Herr­schaft des kapitalistischen Marktes über die Demokratie (Klassenkampf von oben) der alles Leben gefährdende Höhepunkt dieser Ver­keh­rung. Das zweite Grundproblem ist die Utopie eines Lebens und dieser Erde ohne Tod, zum ersten Mal auftauchend vor ca. 6000 Jahren im Gilgamesch-Epos. Die frühen Vorläufer davon sind die vor 100 000 Jahren beginnenden Erdbestattungen mit Grabbeigaben, die auf Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod hinweisen. Ohne dies zu reflektieren, abstrahieren auch die empirischen Wissenschaften der Moderne von der Endlichkeit des Men­schen und verweisen so auf ein Jenseits der Endlichkeit, wenn sie z. B. den perfekten Beobachter, den perfekten Markt mit allwissenden Teil­nehmenden und perfektem Wettbewerb oder den perfekten Plan für ihre Modelle voraussetzen. Wenn solche Perfektionen dann nicht als trans­zen­dentale Konzepte, sondern als umzusetzen­de Ziele von Machtsystemen durchgesetzt werden, kommt es zu Katastrophen wie im Stalinismus oder dem gegenwärtigen Neoliberalismus, der mit der Absolutsetzung des Marktes die Menschheit in den kollektiven Selbstmord treibt.

 

2. Diese Themen werden unter den Stichworten Allwissenheit und Unsterblichkeit durchbuchstabiert mit dem Ergebnis, dass um des konkreten Lebens willen in die angeblich sich selbst regulierenden Märkte eingegriffen werden muss, wenn sie ein Instrument des Lebens und nicht des Todes sein sollen.

 

Unter 3. wird dies dann methodisch analysiert. Dabei geht es um die neue Metaphysik der menschlichen Praxis. „Die Welt post mortem des Paulus von Tarsus ist jene Welt, die als transzendentaler Begriff überall in den empirischen Wissenschaften der Moderne aufs Neue konzipiert wird. Na­­türlich ist sie in diesen Wissenschaften als transzendentaler Begriff präsent, bei Paulus hingegen wird sie als zukünftige wirkliche Welt post mor­tem verstanden – in der Vorstellung von der Auferstehung der Toten, die eine transzendente Imagination ist“ (187). Dies steht in der Tradition des jüdischen Gottes Jahwe, der als Sklavenbefreier verstanden ist und deshalb auf die Menschwerdung des Menschen zielt. In der Moderne wird aber Gott nicht Mensch, sondern Geld. So wird aus dem Gott des Lebens der Gott des Todes. Ohne Markt und Geld geht es allerdings in einer ar­beitsteiligen Gesellschaft nicht. Deshalb muss um des Lebens willen demokratisch in den Markt interveniert werden, d. h. nach Jesus und Paulus, aus der Perspektive der Schwachen und Armen (gegen Nietzsche, der dagegen den Willen zur Macht setzt).

 

4. wird die neue Welt des Paulus entfaltet, ausgehend von der Formulierung der Menschenrechte (Gal 3,28). Die großen Emanzipationsbewegungen der Sklaven, Frauen und Arbeiter in der Moderne ruhen auf diesem Fundament. D. h. es musste zunächst auf der Ebene des Mythos formuliert werden, was dann in der Gesellschaft erscheinen konnte. Allgemein formuliert Paulus seinen Ansatz in der Kritik des Gesetzes: Gesetz dient nur dem Leben, wenn es von der Liebe, vom Nächsten her reguliert wird (Rö 13,8-10). So entsteht der Humanismus der Praxis – die Praxis, die sich an der neuen Welt orientiert, und so der Menschwerdung Gottes durch Menschlichkeit entspricht. Oft kann hier auf Papst Franziskus und sein Apostolisches Schreiben zur Ökonomie, Evangelii Gaudium, verwiesen werden.

 

5. Den Abschluss bildet die „Kritik der Religion im Namen der Mündigkeit des Menschen“. Nach Bonhoeffer besteht die Selbstverwirklichung des Menschen im „Dasein für andere“. Genau dies korrespondiert mit der Tradition Jahwes, der die Menschen bei ihrer Selbstbefreiung aus der Sklaverei wie ein Freund begleitet, der Gott der „mitten in unserem Leben“ jenseitig präsent ist, nicht der mächtige Deus ex machina, sondern der mit-leidende Gott.

 

Dies ist der Bonhoeffer, der, als er – für andere – an den Galgen ausgeliefert wurde, sagte: „Ihr seht das Ende, für mich ist es der Anfang des ewigen Lebens.“

 

Ulrich Duchrow