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KRITISCHES CHRISTENTUM

 

Nr. 482/483                                                   November/Dezember 2024

 

 

Leonardo Boff:

 

DIE WELT HAT IHR HERZ VERLOREN!

Verfolgt man den gegenwärtigen Lauf der Welt, sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene, so sieht man einen regelrechten Tsunami von Hass, Lügen, Ausgrenzung, regelrechtem Völkermord und Massenvernichtung, wie im Gazastreifen, der uns ratlos macht. Wie weit kann das menschliche Böse gehen? Es gibt keine Grenzen für das Böse. Es kann bis zur Selbstauslöschung des Menschen gehen.

Wenn ich an unser Land denke, die Todesfälle, die Morde an jungen Schwarzen in den Randbezirken, die Kinder, die Opfer verirrter Kugeln werden, sei es von der Polizei (die tötet) oder von kriminellen Vereinigungen, die täglichen Frauen­morde und die Hunderte von Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen, die Zerstückelung von Entführten, lassen eine ganze Stadt wie Rio de Janeiro ständig in Angst und Bedrohung leben. Sie verliert ihren ganzen Glanz. Dies geschieht in fast allen großen Städten unseres Landes, die Sérgio Buarque de Holanda als „herzlich“ bezeichnete (Raízes do Brasil, 1936). Die meisten Interpreten haben jedoch die Fußnote zu dem Begriff „herzlich“ nicht gelesen, in der er bemerkt: „Feindschaft kann ebenso herzlich sein wie Freundschaft, da beide aus dem Herzen geboren werden“ (Nr. 6). Brasilien zeigt also, vor allem unter der Regierung der Unwählbaren, die Feindschaft zwischen Freunden und in den Familien, die Banalität des Fluchens, des schlechten Benehmens und der Lüge: alle sind „herzlich“, weil sie aus einem „herzlichen“ (perversen) Herzen geboren werden.

Auf internationaler Ebene ist das Szenario noch abscheulicher. Mit der uneingeschränkten und mitschuldigen Unterstützung der USA und der beschämenden Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft, die ihr Erbe der Bürgerrechte, der Demokratie und anderer zivilisatorischer Werte verraten hat, werden von der rechtsextremen Regierung Benjamin Netanyahus wahre Kriegsverbrechen an 40.000 Zivilisten und der unbestreitbare Völkermord an rund 13.000 unschuldigen Kindern im Gazastreifen verübt. Dies ist eine völlig unverhältnismäßige Vergeltungsmaßnahme für ein anderes, nicht weniger schreckliches Verbrechen der Terrorgruppe Hamas.  Netanyahu lässt solche Völkermorde zu, weil er kein Herz hat, weil er sich nicht in die Mütter und unschuldigen Opfer hineinversetzen kann. Es ist ihm egal, ob er, um einen Hisbollah-Führer zu töten, Dutzende anderer Menschen bei einem Bombenangriff opfern muss. Ähnliche Verbrechen finden in dem Krieg statt, den Russland gegen die Ukraine führt, mit Tausenden von Opfern, der Zerstörung einer uralten Schwesterkultur und unzähligen unschuldigen Opfern. Bleiben wir hier stehen auf diesem Kreuzweg der Schrecken, der mehr Stationen hat als der des kreuztragenden Gottessohnes.

Es stellt sich die Frage, wie dies am helllichten Tag geschehen kann, ohne dass eine anerkannte Auto­ri­tät diese Ausrottung von Menschen und ganzen Städten stoppen könn­te. Was ist die eigentliche Ursache für diese Ungerechtigkeit? Die Ge­schichte kennt Ausrottungen in der Ver­gangenheit, sogar im Namen Got­­tes, wie im schrecklichen Buch der Richter in der jüdisch-christ­li­chen Bibel und in so vielen Kriegen der Vergangenheit. Israel hat mehr als 207 UN-Beamte getötet, Kran­kenh­äuser, Schulen, Universitäten und Moscheen bombardiert und 80 Prozent des Gazastreifens zerstört. Heute besteht die ernste Gefahr eines totalen Krieges zwischen den militaristischen Mächten, die um die Vorherrschaft in der Welt wett­eifern, was das Prinzip unserer Selbst­­zerstörung verwirklichen wür­­de.

Ich bleibe bei der Interpretation, dass all dies möglich geworden ist, weil wir das Herz, den esprit de finesse (Pascal) und die Dimension der Anima (die Sensibilität von C.G. Jung) verloren haben. Die moderne Kultur ist auf dem Willen zur Macht als Herrschaft aufgebaut, die sich der Vernunft bedient, losgelöst von Herz und Gewissen, übersetzt in Techno-Wissenschaft für unser Wohl und mehr für kriegerische Zwecke. Wie Papst Franziskus in Laudato Sì feststellte: „Die Men­schen sind nicht im richtigen Ge­brauch der Macht erzogen worden, … weil sie nicht in Bezug auf Ver­ant­wortung, Werte und Gewissen be­gleitet wurden“ (Nr. 105). Die Vernunft hat ihre Willkür in Form des Rationalismus etabliert, indem sie andere Arten, die Wirklichkeit zu erkennen und zu empfinden, er­nied­rigt hat. Auf diese Weise wurde das Gefühl (Pathos) unter der fal­schen Annahme unterdrückt, dass es die Objektivität der Analyse behindern würde. Heute ist klar, dass es keine absolute Objektivität gibt. Das Subjekt forscht mit seinen eige­nen Voraussetzungen und In­ter­essen, so dass Subjekt und Ob­jekt immer miteinander verwoben sind.

Tatsache ist, dass die Dimension des Herzens und der Wärme verdrängt wurde. Neben dem Repti­lien­­gehirn, das das älteste ist, ist das limbische Gehirn unsere eigent­­­liche Basis. Es entstand bei den Paläo-Säugetieren vor 150 - 200 Millionen Jahren und bei den hö­­heren Säugetieren vor 40 - 50 Mil­­lio­nen Jahren, mit denen wir eine Wohngemeinschaft teilen. Wir sind rationale Säugetiere und daher emp­findungsfähige Wesen. Das lim­­bische Gehirn ist der Sitz unserer Emotionen, sei es Hass, Wut oder andere Negativität, aber vor allem beherbergt es die Welt der Exzellenz, der Liebe, der Freund­schaft, der Empathie, der Werte, der Ethik und der Spiritualität. Das neokortikale Gehirn entstand mit dem Menschen vor 7 - 8 Millionen Jahren und erreichte seinen Höhe­punkt vor etwa 100.000 Jahren mit der Entstehung des Homo sapiens, dessen Erben wir sind. Es ist die Welt der Vernunft, der Konzepte, der Sprache und der logischen Ordnung der Dinge.

Es war also eine späte Ankunft, aber mit seiner Entwicklung begründete es das Reich der Vernunft. Aber man darf nicht vergessen, dass wir es mit einem einzigen Ge­hirn zu tun haben, das diese drei Di­men­sionen umfasst, die immer mit­ein­ander verbunden sind (in Mac Leans Version des dreieinigen Ge­hirns: reptilisch, limbisch, Neo­kor­tex). Die übermäßige Konzentration auf die Rationalität, mit der wir die Welt, die Frauen (Patriarchat) und die Natur auf Kosten der Gefühle beherrscht haben, hat zu sozio-hi­sto­rischen Missverständnissen ge­führt, deren schädliche Folgen wir jetzt ernten. Es ist dringend not­wendig, das neokortikale Gehirn (Vernunft/Logos) mit dem limbi­schen Gehirn (Herz/Pathos) zu ver­einen, wobei das Herz die rationa­len Projekte mit Menschlichkeit und Sensibilität bereichert und umge­kehrt in die Vernunft investiert, d. h. der Welt der Gefühle und des Her­zens eine Richtung und ein ange­me­ssenes Maß gibt. Weil wir das Gefühl der gegenseitigen Zugehörigkeit, dass wir ausnahmslos alle Menschen sind, ertränkt haben, sind wir zu grausamen Völkermördern (gegenüber unserer Spezies) und Umweltmördern (gegenüber der Natur) geworden. Wir haben unsere Brüder und Schwestern versklavt, unterjocht und diskriminiert.

Der westliche, liberal-kapitalistische Humanismus ist bankrott, weil wir die Dimension des Herzens, des Geistes der Finesse (Pascal), der es­sentiellen Sensibilität (anima) nicht gerettet haben. Die so genannte „regelbasierte Ordnung“ (die sich immer nach der Bequem­lich­keit der Mächtigen richtet) hat sich als Trugschluss erwiesen.

Wie eine hochrangige UN-Beamtin, Chelsea Ngnoc Minh Nguyen, warnte: „Die Gewalt und Brutalität der letzten Jahre sollte uns alle – ob im Süden oder im Norden, im Osten oder im Westen – dazu veranlassen, eine ehrliche und tiefe Selbstprüfung über die Art von Welt vorzunehmen, in der wir leben wollen“ (IHU 4/10/24). Ich sehe kei­ne andere Alternative, als das Paradigma der Zivilisation (vom domus zum frater) zu ändern, als einen neuen Humanismus zu gründen, der in unserer eigenen Natur wur­zelt. In ihm finden wir die anthropologischen Konstanten, die unserem Menschsein innewohnen: bedingungslose Liebe, essentielle Fürsorge, Kooperation, Empathie, Mi­tgefühl, Anerkennung des Ande­ren als Mitmensch, Respekt vor der Natur und der Erde, die uns alles gibt, Verzauberung durch das Schöne und Gute und Ehrfurcht vor dem Mysterium. Diese Werte wären die Grundlage einer anderen möglichen und notwendigen Welt. Andernfalls steuern wir auf das Unvorstellbare zu.

Quelle: leonardoboff.org, 13. 10. 2024

Übersetzung von Bettina Gold-Hartnack.

Leonardo Boff, geboren am 14. Dezem­ber 1938 in Concordia im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina als Sohn Südtiroler Einwanderer, ist Theo­lo­ge, Philosoph, Schriftsteller, Profes­sor und Mitbegründer der internationalen Initiative „Erdcharta“. Er gehört zu den wichtigsten Befreiungs­theologen Lateinamerikas.

Zu seinen neueren Büchern gehören: „Be­freit die Erde! Eine Theologie für die Schöpfung“, Stuttgart 2015. „Wie man sich um das Gemeinsame Haus kümmert“, Petropolis/Rio 2018. „Traum von einer neuen Erde – Bilanz eines theolo­gi­schen Lebens“, Münster 2019 „Das Stöhnen der Erde. Geburtswehen einer neuen Welt“, Berlin 2022. „Universale Ge­schwisterlichkeit: Gesellschafts­ord­nung der Zukunft“, Münsterschwarzach 2022.

 

PADRE MARCELO ERMORDET

In „KC“ 458/459 (Mai/Juni 2022, AUF DER SUCHE NACH HELDEN*INNEN: PADRE MARCELO, S 10 ff.) brachten wir einen Bericht des Filmemachers Fernando Romero-Forsthuber über den mexikanischen Armenpriester Padre Marcelo Pérez. U. a. hieß es dort: „Ich war sehr beeindruckt von der Begegnung mit Padre Marcelo. Er hat etwas Mystisches an sich. Etwas, das ihn ,schweben’ lässt, wo immer er auch geht... Vielleicht ist es seine Motivation, Seite an Seite mit den Armen zu gehen, dass man, wo immer er ist, von Hoffnung erfüllt ist. Ja, man spürt den Geist des Kampfes und der Befreiung. Und die Angriffe, die er erleidet, die von Verleumdungen – zum Beispiel wird er auf Social Media beschuldigt, der Anstifter der bewaffneten Milizen von Pantelho zu sein – bis hin zu Drohungen und Angriffen reichen, erträgt er mit Stoizismus. Auf ihn ist sogar ein Kopfgeld ausgesetzt. Er weiß, dass sein Weg gefährlich ist. Aber, wie er bei seinen Treffen immer wieder betont: Es reicht nicht, nur zu beten. Denn, wäre Jesus gekreuzigt worden, wenn er nur gebetet hätte?“ Und in dem Interview das Romero-Forsthuber mit Padre Marcelo führte sagte dieser auf die Frage, ob er sich bewusst sei, dass sein Leben in Gefahr sei: „Ich bin mir bewusst, dass jemand, der für den Frieden kämpft, manch-mal das Leben opfern muss. Für mich ist der Frieden größer als mein eigenes Leben, größer als der Tod, der Frieden der Menschen ist größer als Drohungen und Verleumdungen.“ Am 20. Oktober wurde Padre Marcelo ermordet. Wir bringen einen Bericht der „Agentur Fides“, dem Presseorgan der Päpstlichen Missionswerke in Rom.

Die katholische Gemeinde von Chiapas teilt ihre Trauer und ihre Gebete in diesen Stunden nach der Ermordung eines indigenen Priesters, des Pfarrers des Viertels Cuxtitali in San Cristóbal de las Casas, Chiapas. Der Überfall auf Pater Marcelo Pérez ereignete sich auf dem Rückweg von der Pfarrei Nuestra Señora de Guadalupe in San Cristóbal de las Casas, Mexiko, nachdem er die Messe gefeiert hatte. Den laufenden Ermittlungen zufolge haben zwei angeheuerte Attentäter ihn am Sonntagmorgen, den 20. Oktober, erschossen.

Er ist bekannt für seinen Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden in den indigenen Gemeinschaften der Region sowie für seine Vermittlung bei Konflikten in Gebieten wie Pantelhó, wo Gewalt und Unsicherheit erheblich zugenommen haben und wo bewaffnete Gruppen seit langem die Kontrolle über das Gebiet ausüben. Der Maya-Priester Tsotsil, der indianischer Abstammung ist und direkt von den Maya abstammt, hatte im Laufe der Jahre eine Reihe von Morddrohungen und ständigen Verleumdungen er-halten, weil er gegen die Aktionen der bewaffneten Gruppen in der Region vorging und sie anprangerte.

Gerade wegen der ständigen Drohungen hatte die Diözese San Cristóbal de las Casas beschlossen, ihn von der Gemeinde Simojovel in die Gemeinde Nuestra Señora de Guadalupe zu versetzen. „Chiapas ist eine tödliche Bombe, es gibt viele Menschen, die verschwunden sind, entführt wurden und durch das organisierte Verbrechen ermordet wurden“, sagte er in einem Interview am 13. September während einer Friedensdemonstration, an der Gemeindemitglieder aus den drei Diözesen von Chiapas teilnahmen. Im August 2024 sagte er, dass in Simojovel ein Preis von einer Million Pesos (knapp 50.000 Euro) auf sein Leben ausgesetzt worden sei, dass er aber unter dem Schutz Gottes seinen Friedensprozess fortsetzen werde. „Ich habe ein göttliches Mandat“, sagte er der Sol de México am 2. August 2024.

Der Sohn bäuerlicher Eltern wurde in der Gemeinde Chichelalhó, in San Andrés Larráinzar, Chiapas, geboren. Er studierte im Priesterseminar, wurde am 6. April 2002 zum Priester geweiht und begann seine kirchliche Arbeit als Gemeindepfarrer in Chenalhó, wo er Kontakt zu den Überlebenden des Massakers von Acteal im Jahr 1997 hatte. (Bei dem Massaker von Acteal handelte es sich um ein Massaker an 45 Teilnehmern eines Gebetstreffens katholischer indigener Dorfbewohner, darunter mehrere Kinder und schwangere Frauen, die Mitglieder der pazifistischen Gruppe Las Abejas – „Die Bienen“ – waren, in dem kleinen Dorf Acteal in der Gemeinde Chenalhó im mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die rechtsgerichtete paramilitärische Gruppe Máscara Roja ermordete die Opfer am 22. Dezember 1997, während die mexikanische Regierung im September 2020 erstmals die Verantwortung für das Massaker zugab).  Marcelo Pérez war jahrzehntelang als Menschenrechtsaktivist tätig und lebte mehr als 10 Jahre lang in Simojovel. Er koordinierte die Sozialpastoral der Provinz Chiapas, zu der die Diözesen der Gemeinden San Cristóbal de Las Casas, Tapachula und Tuxtla Gutiérrez gehören, unterstützte indigene Organisationen und religiöse Gruppen und leitete Pilgerfahrten und Aktivitäten zu den Themen Gesundheit, Armut und Gewalt in Simojovel. Außerdem war er 10 Jahre lang Pfarrer in Chenalhó, 10 Jahre in Simojovel und mehr als zwei Jahre in der Pfarrei Nuestra Señora de Guadalupe.

Im Jahr 2020 wurde Padre Marcelo für den „Per Anger Preis“ nominiert, der vom schwedischen „Forum för levande historia“ seit 2004 jährlich an Personen, die sich bei-spielhaft für Demokratie und Men­schenrechte einsetzen, verliehen wird. Per Anger war ein schwedischer Diplomat, der zahlreiche Juden vor dem Holocaust in Budapest rettete.

Kardinal Felipe Arizmendi Esquivel, emeritierter Bischof von San Cristóbal de las Casas, drückte seine tiefe Trauer aus und erinnerte daran, dass Pater Marcelo einer der ersten indigenen Tsotsil-Priester war, die er geweiht hat. „Er hat sich immer für Gerechtigkeit und Frieden unter den Eingeborenen eingesetzt, besonders in Simojovel, und die Opfer der internen Gewalt in Pantelhó begleitet“, sagte Esquivel. Dem Kardinal zufolge war der Priester nie parteipolitisch aktiv, sondern setzte sich stets für Respekt und Gerechtigkeit in den Gemeinden ein: „Er kämpfte immer dafür, dass die Werte des Reiches Gottes in den Gemeinden gelebt werden. Dies sind die Werte der Wahrheit und des Lebens, der Heiligkeit und der Gnade, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“.

Marcelo Pérez war ein lebendiges Beispiel für priesterliches Engagement für die Bedürftigsten und Schwächsten der Gesellschaft. Sein pastorales Wirken, das sich durch seine Nähe zu den Menschen und seine ständige Unterstützung für die Bedürftigsten auszeichnete, hinterlässt ein Vermächtnis der Liebe und des Dienstes, das in den Her-zen all derer weiterleben wird, die er mit seinem Dienst berührt hat“, so die Mexikanische Bischofskonferenz (CEM) in einer Erklärung, die von ihrem Präsidenten Rogelio Cabrera López und ihrem Generalsekretär Ramón Castro Castro unterzeichnet wurde..

„Der Mord an Marcelo beraubt die Gemeinde nicht nur eines engagierten Pfarrers, sondern bringt auch eine prophetische Stimme zum Schweigen, die unermüdlich für Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit in der Region Chiapas gekämpft hat. Marcelo Pérez war ein lebendiges Beispiel für priesterliches Engagement für die Bedürftigsten und Schwächsten der Gesellschaft“, erklärte die CEM.

Die Bischöfe fordern außerdem, dass die Behörden „eine umfassende und transparente Untersuchung durchführen, um dieses Verbrechen aufzuklären und Pater Marcelo Pérez Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, dass sie „wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit der Priester und der in der Seelsorge tätigen Personen zu ge-währleisten“, und dass sie „ihre Anstrengungen im Kampf gegen die Gewalt und die Straflosigkeit, die die Region Chiapas“ und das Land im Allgemeinen plagen, ver-stärken.

Die Gesellschaft Jesu in Mexiko verurteilte den Mord an Pater Marcelo Pérez Pérez, Pfarrer der Kirche von Guadalupe in San Cristóbal de las Casas, auf das Schärfste. „Pater Marcelo ist seit Jahrzehnten ein Symbol des Widerstands und der Begleitung für die Gemeinschaften von Chiapas und verteidigt die Würde, die Rechte der Menschen und den Aufbau eines wahren Friedens. Sein Engagement für Gerechtigkeit und Solidarität machte ihn zu einer Referenz für diejenigen, die sich eine Zukunft ohne Gewalt und Unterdrückung wünschen.

Wir lehnen jeden Versuch ab, diese Ereignisse als Einzelfälle herunterzuspielen. Die organisierte Kriminalität hat in verschiedenen Regionen des Landes Angst und Schmerz verbreitet, und Chiapas bildet da keine Ausnahme. Die Gewalt in dieser Region spiegelt ein strukturelles Problem wider, das eine umfassende und dringende Reaktion des Staates erfordert.“, heißt es in der Erklärung des mexikanischen Jesuitenordens.

Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrecht in Mexico verurteilte das „völlig inakzeptable Verbrechen“ und forderte „die Behörden auf, eine schnelle, um-fassende und wirksame Untersuchung durchzuführen“.

Die neue mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum erklärte, dass ihre Regierung bereits eine Untersuchung eingeleitet habe und mit den Autoritäten der katholischen Kirche in Kontakt stehe.

Quelle: https://www.fides.org/, 21. 10. 24. „Fides“ ist der offizielle Nachrichten­dienst der Päpstlichen Missionswerke.

 

BUCHTIPP:

Pabst, Hans: Eine Reise ohne Wiederkehr.  Vom Verlies in den Behandlungssalon - Geschichte einer Befreiung. Spica Verlag. Berlin 2024.

Wenn der Protagonist zu Beginn seines Werkes seine Herkunft beschreibt, nennt er seinen Vater „Erzeuger“, seine Mutter „Gebärerin“ (beide zusammen sind „Nachkommen-Hersteller“) und den örtlichen Pfarrer „Kirchturmwächter“. Die Irritation des Lesers ist bald erklärt: Es wird eine Kindheit beschrieben, die keine ist. Am Bauernhof in einem kleinen Ort im Mürztal gibt es nur kalte Distanz und nicht wärmende Nähe. Das erklärt die sperrige kühle Sprache. Herrscher ist ein despotisch züchtigender Vater, der eine große wortlose Familie anführt. Der Bauernhof ist eine „Arena“, die nur den Kampf ums Überleben kennt und im späteren Leben als „Verlies“ in seinem Inneren ihr Unwesen treibt. Die Trostlosigkeit setzt sich fort in der Schule, in der der Rotstift regiert und weitere Schläge zu Hause auslöst. Von dort die Flucht in ein Seminar in der Provinzhauptstadt, in dem der priesterliche Nachwuchs herangebildet werden soll. Der körperlichen Züchtigung folgt die geistige durch „professionelle Gottesversteher“.

Das Ziel, Priester zu werden, lässt er fallen, als er erste befreiende Erfahrungen bei seinem Studium in Tübingen macht, wo der „Baum der Erkenntnis“ steht, vermittelt von kompetenten Größen wie Ernst Bloch, Gotthold Hasenhüttl oder Ernst Käsemann. Nach erlittener streng-katholischer Ordnung folgt das Chaos, zu dem auch seine ersten Begegnungen mit Frauen beitragen und das die Suche nach neuen Orientierungen auslöst. Fiktive Dialoge und innere Monologe, die den Lesefluss manchmal stören und etwas zu lang geraten sind – dokumentieren diesen Prozess, in dem die alten entwürdigenden Bilder von der „Arena“ des Bauernhofs immer noch ihr Unwesen treiben, auch in Beziehungen mit Frauen. „Er war noch nicht in der Lage, aus dem Müll der frühen Jahre uneingeschränkten Gewinn zu ziehen.“ (S. 156)

In dieser Phase ist einerseits Aufräumen angesagt, andererseits das Befriedigen der erwachten Neugierde, das Aufnehmen der Umwelt mit allen Sinnen. Daran soll ihn auch nicht hindern, dass er im Kreis der „Gottesversteher“ in der neuen Rolle als Religionslehrer bleibt. Aber die Vergangenheit ist nicht vergessen:

„Selbst wenn Aufräumarbeiten angesagt waren, kam ich nicht herum, mich diesen frühen Ereignissen zu stellen, sie zu durchwandern und mich danach zu erholen. Und das ging viele Jahre meines Lebens“ (S. 170).

Sein Wirken als Religionslehrer sieht er hauptsächlich als „Brotwerwerb“, weniger als Berufung, er berichtet kaum über Erfolge, wie er die Jugendlichen für das Christentum interessieren oder sogar begeistern konnte. Im Gegenteil: Dieser Job wird für ihn zusehends mühsam und gesundheitsschädlich. Außerschulisch wird er Leiter der „Soli-daritätsgruppe engagierter Christen“ (SOG), die beim letzten Österreichischen Katholikentag 1983 ein sehr gut besuchtes Alternativprogramm mit den Professoren Norbert Greinacher und Erwin Ringel auf die Beine stellt.

Es folgen die entscheidenden Kapitel dieser Reise, der „Einstieg in die inneren Räume“. Deren Hauptprotagonist ist Sigmund Freud. Er fasziniert ihn noch immer. Aber er macht keine Psychoanalyse, sondern begibt sich in eine Runde von 15 Personen. Geistige Leitfigur ist Carl Rogers. Ob es eine spezielle Ausbildung war oder eine Selbsterfahrungsgruppe, bleibt dahin gestellt.

Schlüsselwörter für dieses „dritte Leben“ sind: Unbedingte Wertschätzung, Empathie und Selbstverwirklichung, Selbstaktualisierung, alternatives Männerbild, Auflösung der Sprachlosigkeit.

Die Klausuren waren Workshops. Sie waren immer intensiv und niemand wusste, wann und in welch dunkles Verlies für wen diesmal die Reise ging. Es war jeweils auch viel Flüssigkeit im Raum, die sowohl bei den selbst Reisenden als auch bei den Näheren und Ferneren im Reiseabteil aus den Augen floss. Alles in allem hatte jeder/jede von uns ein Verlies, in dem seine arme Seele eingesperrt war und es klang so, als ob ebendiese arme Seele viele Jahre genau auf diese Befreiungs- und Rettungsaktion ge-wartet hätte (S. 223).

Während ihn sein Studium in Tübingen rational gesättigt hat, holt er sich hier reichliche emotionale Nahrung, die ihn zu seinem letzten mutigen Schritt motiviert, nämlich die Schule zu verlassen und Psychotherapeut zu werden. Das „vierte Leben“ kann beginnen, nachdem er den richtigen Gebrauch des „systemischen Werkzeug-Kastens“ (S. 311) eingeübt hat.

Die erhoffte Steigerung seiner Lebensqualität ist eingetreten: Als „Freiberufler“ ist er sein eigener Herr und niemanden Rechenschaft schuldig. Einzige Norm ist das Berufs-ethos, zu dessen Einhaltung ihn seine Eintragung in der „Liste in Wien“ verpflichtet. Was Erfolg ist und was nicht, melden ihm seine Kunden direkt oder indirekt zurück. Auf der letzten Seite resümiert er zufrieden:

Viele Menschen sind in meinen Behandlungs-Salon im vierten Stockwerk ohne Aufzug mit hängendem Kopf und traurigem Gesichtsausdruck gekommen. Verlassen haben sie mich lachend, festen Schrittes, zuversichtlich (S. 347).

Einige Seiten vorher fragt er sich, was er davon hatte:

Wahrscheinlich habe ich von den Menschen, die den 4.Stock erklommen haben, mehr gelernt als sie von mir. Vielleicht sind sie ohnedies deshalb über einen längeren Zeitraum beharrlich zu mir gekommen, weil ein Grundzug in jedem von uns darin besteht, für andere da zu sein (S. 311).

Das wäre zumindest eine emotionale Anknüpfung an Tübingen, wo er den „Baum der Erkenntnis“ fand. Aber waren darunter auch Früchte, die ihm Nahrung für seine erfüllendste berufliche Phase gaben? Der Bogen zurück zu dieser Zeit fehlt mir. Was ist an die Stelle des verhassten Kruzifixes in der Bauernstube getreten? Hat er vielleicht hinter der Fassade der Kirchturmwächter Neues entdeckt, zum Beispiel ein alternatives Verständnis der Praxis Jesu? Abschließend jenes Zitat, in dem er eröffnet, Psycho-therapeut werden zu wollen und mit dem ein Bezug zu Tübingen zumindest herleitbar ist:

Umkehr und Metanoia im wörtlichen Sinn, zu neuen positiven Werten, die darin bestehen, dass man sich von bedrückenden religiösen Traditionen nicht nur abwendet, son-dern sie überwindet. Das Diktum ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst` konnte ich so neu interpretieren und auf eine humane Ebene stellen (S. 292).

Mag. Hans Döller, Jahrgang 1955, Studium der Theologie und Germanistik an der Universität Innsbruck. Vor Hans Pabst Leiter der „Solidaritätsgruppe engagierter Christen“ in den Achtziger Jahren. Post-graduate Studium der Soziologie am Institut für Höhere Studien in Wien, danach beruflich in der Arbeiterkammer Niederösterreich sowie im Sozialministerium tätig. Jetzt im Ruhestand.