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aus:
Antonio
J. Ledesma:
REFLEXIONEN
NACH DER WAHL AUF DEN PHILIPPINEN
Der emeritierte römisch-katholische
Erzbischof Antonio J. Ledesma SJ von Cagayan de Oro (Hauptstadt der Provinz
Misamis Oriental auf Mindanao, der zweitgrößten Insel der Philippinen)
reflektiert über die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, die am 9. Mai auf den Philippinen stattgefunden haben. Ferdinand Marcos Jr., bekannt als
„Bongbong“, Sohn und Namensvetter des verstorbenen Diktators des Landes, der
vor 36 Jahren durch einen Volksaufstand gestürzt wurde, ist zum neuen Präsidenten
der Philippinen für eine sechsjährige Amtszeit gewählt worden. Er hat mit 58,74
% einen großen Vorsprung vor seiner Rivalin, der liberalen Menschenrechtsanwältin
und amtierenden Vizepräsidentin Leni
Robredo, die auch von breiten Kreisen der katholischen und anderen Kirchen
unterstützt wurde, mit 27,99 %. (Auf den Philippinen werden Präsident und
Vizepräsident getrennt gewählt und so bekam die liberale Oppositionskandidatin
Robredo 2016 eine knappe Mehrheit gegenüber dem jetzt zum Präsidenten gewählten
rechten Ferdinand Marcos Jr.). Vizepräsidentin wurde mit 61,29
% die Tochter des rechtsextremen Präsidenten Rodrigo Duterte, Sara Duterte.
Erzbischof Ledesma skizziert 10
Herausforderungen, die sich aufgrund des Wahlergebnisses auf den Philippinen
stellen.
1. Die massive DESINFORMATIONS-Kampagne eines bestimmten Kandidaten und
seiner Partei über die sozialen Medien kann nicht einfach beiseite geschoben
werden. In den letzten fünf bis zehn Jahren wurde
diese Online-Kampagne heimlich durchgeführt und erreichte die Köpfe und
Fantasien der Handy-Nutzer selbst in den entlegensten Gebieten des Landes. Die
Verbreitung von Falschnachrichten über die „goldene Ära“ der Zeit des
Kriegsrechts, die Rehabilitierung des Namens Marcos, die Herabsetzung des Rufs
anderer Kandidaten, die Darstellung von Helden als Schurken und Schurken als
Helden – all dies wurde mit Bedacht und strategischer Ausrichtung auf sozioökonomische
Klassen sowie Altersgruppen geplant.
Wie kann das Land diese Form der Gehirnwäsche und des „Stimmenkaufs“ bei künftigen Wahlen verhindern? Es gibt
Gesetze zur Verleumdung im Internet, aber lassen sie sich leicht umsetzen?
Müssen sich die Absender anonymer Online-Nachrichten ausweisen? Die häufige
Wiederholung von Lügen kann schließlich als Wahrheit
akzeptiert werden – eine Lektion von Goebbels aus dem Naziregime.
2. Es wurde auf das fehlende historische Bewusstsein für die
Ungerechtigkeiten des Kriegsrechts hingewiesen, insbesondere bei den jungen Wählern,
die nach den 70er und 80er Jahren geboren wurden. Hat es unser Bildungssystem
versäumt, der jüngeren Generation die Schrecken dieser Zeit ins
Gedächtnis zu rufen, so wie wir auf den Philippinen bittere Erinnerungen an den
Zweiten Weltkrieg haben? Haben es auch die Medien versäumt, ein genaues Bild
dieser schlimmen Zeit in unserer Geschichte zu vermitteln? Wir müssen diese
Unzulänglichkeiten korrigieren, um die Wahrheit zu sagen und auch, um die
Erinnerung an die Opfer des Kriegsrechts zu ehren.
Eines dieser Opfer war mein Klassenkamerad Evelio Javier, ehemaliger
Gouverneur von Antique, der am Vorabend der EDSA-People-Power-Revolution (Anm.: Volksaufstand im Februar 1986, der zum Sturz der
Marcos-Diktatur führte. – D. Red.) getötet wurde.
3. Wir hören Berichte über den WELTWEITEN KAUF VON STIMMEN, der offen
am Wahltag oder in den Nächten davor betrieben wurde, oder durch verschiedene
Methoden wie die Verteilung von Geldautomatenkarten, Ratenzahlungen vor und
nach der Wahl usw. Ist der Stimmenkauf zur gängigen Praxis
geworden, um Wahlen zu gewinnen? Was ist mit
den ehrlichen Politikern, die dies nicht zulassen? Eine
bestimmte Präsidentschaftskandidatin hat ihren Wahlkampf mit bescheidenen
Mitteln geführt, und schon gar nicht durch Stimmenkauf.
Es gibt bereits Gesetze gegen den Stimmenkauf. Brauchen
wir eine striktere Umsetzung dieser Gesetze? Können die Oberste
Wahlbehörde oder die Nationalpolizei selbst spezielle
Wachen abstellen, die nicht nur danebenstehen, sondern die Schlangen der
Stimmenkäufer und -verkäufer in der Nähe der Wahllokale im Auge behalten?
Freiwillige des
Gemeindepastoralrats für verantwortungsbewusstes Wählen (PPCRV)
haben versucht, Fotos von einigen dieser Praktiken zu machen, aber das sind
Einzelfälle.
4. Neben dem Kauf von Stimmen sind wir Zeugen
des KAUFENS von Bürgermeistern und anderen Beamten. Bei
diesen Geschäften geht es um mehrere Millionen Pesos. Ebenso
haben POLITISCHE DYNASTIEN die Praxis verfeinert, lokale Beamte für sich zu
„gewinnen“. Dabei stellt sich oft die Frage: Woher kommt das Geld? Kommt
es aus dem persönlichen Vermögen des Politikers oder
aus der Plünderung der öffentlichen Kassen? Gibt es keine Beschränkungen mehr
für die Höhe der Wahlkampfgelder, die ein Kandidat ausgeben kann? Und wie sollten diese gemeldet werden? Ist
unsere politische Kultur in dieser Hinsicht hoffnungslos beschädigt?
5. Religiöse Führer bleiben im Großen und Ganzen unparteiisch, wenn sie
die Kanzel als offizielle Vertreter der christlichen
Gemeinschaft benutzen. Aber üben sie ihre PROPHETISCHE
ROLLE aus, indem sie moralische Probleme – wie außergerichtliche Tötungen,
Desinformation, Nichtbezahlung von Steuern usw. – energisch
anprangern? Viele haben sich zu Pro-Life-Themen geäußert, aber sollten die
Geistlichen auch über soziale Gerechtigkeit und die Option für die Armen sowie
über die Notwendigkeit einer guten Regierungsführung sprechen?
6. Andererseits sind die Filipinos vielleicht
zu nachsichtig, wie der Premierminister von Singapur, Lee Kuan Yew, einmal bemerkte.
Sie haben der DIKTATORFAMILIE erlaubt, ins Land
zurückzukehren und erneut für ein öffentliches Amt zu kandidieren, noch bevor
die massiven Plünderungsvorwürfe geklärt worden sind. Frühere
Verurteilungen wurden außer Kraft gesetzt. (Einige haben gesagt, dass
die Regierungen unter Cory und P'Noy Aquino in dieser Hinsicht zu nachsichtig
und selbstgefällig waren.). Und so erlaubt das Land heute
ehemaligen Sträflingen, für ein Amt zu kandidieren. Einige sind ehrenwerte Senatoren geworden. Können
wir uns für ein Gesetz einsetzen, das Straftäter automatisch von der Kandidatur
für öffentliche Ämter ausschließt?
7. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Klassen D und E (niedrige und
sehr niedrige Einkommen) die große Mehrheit unserer Wählerschaft ausmachen.
Die Klassen A, B und C (hohe und mittlere Einkommen) machen vielleicht nur etwa
10 % aus. Der wichtigste Gedanke der Verfassung von 1987 war laut dem Delegierten
des Verfassungskonvents, Christian Monsod, die Bereitstellung von SOZIALER
GERECHTIGKEIT, um die Bedürfnisse der einkommensschwächeren
Teile der philippinischen Gesellschaft zu berücksichtigen. Es ist auch diese Gruppe, die anfällig für die Verbreitung
von Fake-News und Interpretationen unserer Geschichte geworden ist. Können wir unsere Amtsträger dazu bewegen, in diese Richtung zu
gehen? Man kann die Leistungen des Bürgermeisters Oscar Moreno würdigen,
der in seiner neunjährigen Amtszeit so viele öffentliche Schulgebäude, Krankenhäuser
und Kindertagesstätten errichtete und entlegene Barangays (Ortsteile) mit
befestigten Straßen versorgte, die der Bevölkerung von Cagayan de Oro (Handels-
und Dienstleistungszentrum der Insel Mindanao) zugute kommen.
8. Die Wahlergebnisse zeigen, dass eine Allianz politischer Dynastien
praktisch die Kontrolle über die Exekutive und Legislative innehat. Auch die
Judikative und die Wahlkommission werden von Beauftragten des derzeitigen Präsidenten
beherrscht. Vor diesem Hintergrund sollte die ZIVILGESELLSCHAFT (einschließlich
der Nichtregierungsorganisationen, der Medien, der Kirche und der einfachen
Familien) eine größere Rolle bei der Wahrung unserer kulturellen und religiösen
Werte spielen, an denen sich unsere politischen Amtsträger und
Wirtschaftsmanager orienttieren sollten. Sie können die fehlende Kontrolle
und das fehlende Gleichgewicht in Bezug auf öffentliche Maßnahmen, die die
Menschenwürde, das Gemeinwohl und die Option für die Armen berühren, herstellen.
9. Die Periode der LENI-ROBREDO-KAMPAGNE (Wahlkampf für die liberale
bisherige Vizepräsidentin Leni Robredo) hat im ganzen Land ein hohes Maß an
Freiwilligkeit und gegenseitiger Hilfe bei der Verfolgung eines gemeinsamen
Ziels gezeigt. Dieser Geist der „dienenden Führung“ (servant
leadership) sollte bei verschiedenen politischen Aktivitäten wie den kommenden
Kommunalwahlen und den künftigen nationnalen Wahlen fortgesetzt werden. Die
kirchlichen Basisgemeinden können auch Strukturen für die Befähigung der
Menschen und die aktive Beteiligung an öffentlichen
Angeleenheiten sein.
10. Die COVID-PANDEMIE hat uns ein neues Bewusstsein für unsere
Zusammengehörigkeit gegeben. Die Impfkampagne, die Einhaltung von Gesundheitsprotokollen
und der Betrieb von Gemeinschaftsverpflegungsstellen sind
alles Beispiele dafür, wie wir als Volk zusammenkommen und für ein höheres Ziel
arbeiten können. Lassen Sie uns also vorwärts gehen und dazu beitragen, das zu
entwickeln, was Papst Franziskus „eine bessere Art von Politik“ und die
Förderung der „politischen Liebe“ nennt.
Antonio Javellana Ledesma SJ (* 28. März 1943 in Iloilo City, Iloilo, Philippinen)
ist ein römisch-katholischer
Ordensgeistlicher und emeritierter Erzbischof
von Cagayan de Oro.
(Quelle: „Independent
Catholic News“, London, 11. 5. 22)
AUF DER SUCHE NACH
HELDEN*INNEN: PADRE MARCELO
Von Fernando
Romero-Forsthuber
Im Laufe meines Leben hatte ich schon
mehrmals die Gelegenheit, Menschen, die Tag für Tag ihr Leben und ihr
Wohlergehen für die Gerechtigkeit, das Gemeinwohl,
die Transformation der Gesellschaft und die Emanzipation der unterdrückten
Klassen riskieren, filmisch zu portraitieren.
All diese inspirierenden Menschen habe ich
an den verschiedensten Orten, wie Palästina, Syrien, Libanon, Türkei, Burma,
Honduras oder Mexiko getroffen, doch keine*r von ihnen war besonders religiös.
Die meisten sind radikale Materialisten, die nicht an
Übernatürliches glauben, sondern an das unmittelbar Greifbare, wie zum Beispiel
die Ungerechtigkeit.
Während meiner letzten Reise im Oktober 2021
besuchte ich Chiapas, um für ein Projekt über den Kampf der Lehrer*innen in
Mexiko zu drehen. Einer dieser Lehrer, war José Luis, ein hart gesottener Gewerkschaftsführer
mit jahrelanger Kampferfahrung. Er erzählte mir von einem interessanten
Priester. Dieser arbeitet im Dschungel von Chiapas und hilft den Campesinos
dabei, sich gegen Ungerechtigkeit zu organisieren. Wegen seines sozialen
Engagements stehe er unter großer Bedrohung und es bestehe die Möglichkeit,
jederzeit getötet zu werden. „Padre Marcelo ist ein
Genosse und wird von allen Menschen geliebt und respektiert“, sagte er mir,
„während er den Eliten ein Dorn im Auge ist“.
Natürlich war ich sofort an
seiner Geschichte interessiert. Für mich ist die
Befreiungstheologie nach vielen Jahren des Reisens und Arbeitens in
Mittelamerika und Mexiko ein vertrautes Phänomen, obwohl ich dachte, sie
gehöre der Vergangenheit an.
Zurück in Wien begann ich
im Internet zu recherchieren, musste aber feststellen, dass man kaum etwas über
den besagten Priester finden kann. Lediglich eine irische und eine schwedische Organisation
veröffentlichten Erklärungen, in denen sie vor einer Bedrohung des Priesters
durch das „organisierte Verbrechen“ (d. h. durch die
Wirtschaftseliten) warnten. Mir war schnell klar: ein Priester, der bereit ist, sein Leben für die Armen und die Unterdrückten zu
geben, den muss ich persönlich kennenlernen!
Padre Marcelo
Die Kirche von Guadalupe in San Cristobal
de las Casas liegt auf einem kleinen Hügel, von dem aus man die ganze Stadt
überblicken kann. Neben der großen weißen Kirche befindet
sich das Pfarrhaus, in dem Pater Marcelo (Marcelo Pérez) lebt. Als wir ankamen, sah ich aus der Ferne ein einheimisches
Paar an die Tür klopfen. Ich erkannte Pater Marcelo, als
er die Tür öffnete. Er wies das Paar an hereinzukommen, und ich konnte sehen,
dass sie sehr bedrückt wirkten. Als das Paar nach etwa
30 Minuten wieder herauskam, gingen wir zum Priester. Er begrüßte mich sehr freundlich und ungezwungen, und als ich ihn nach
dem Paar fragte, das gerade gegangen war, sagte er nur „tja, die Arbeit“.
Und diese Worte
definieren ihn wirklich.
Padre Marcelo, so konnte ich sehen, widmet sich
ausschließlich der „Arbeit“. Für ihn bedeutet das,
sich in den Dienst der Bedürftigen, insbesondere der Armen, zu stellen.
Ob es sich um kleine oder große Probleme handelt, die
Menschen wenden sich an ihn, denn sie wissen, dass er zuhört und wenn er kann,
auch hilft.
Nachdem mein Kameramann
und ich uns vorgestellt hatten, begann unsere Arbeit. Wir begleiteten ihn und filmten sein
Wirken aus dem Hintergrund, so, als wären wir gar
nicht da.
An der Seite des Volkes „gehen“
Etwa eine Woche lang
begleiteten wir ihn zu verschiedenen Orten und Treffen. Die Reise war
abenteuerlich und ernüchternd. Wir besuchten das Dorf Acteal, in der die
Bevölkerung seit dem Massaker von 1997 Widerstand leistet, aber auch Städte wie
Carranza – mit einem langen und gewalttätigen kommunalen Konflikt. Überall
hörte er den Menschen mit Respekt zu, erkundigte sich über ihre Bedürfnisse
und ihre Situation. Es wurde sowohl gebetet als auch
Organisatorisches besprochen. Das Padre Marcelo selbst indigener Abstammung ist und auch Tzotzil spricht, war oftmals ein Hilfe.
Wir fuhren sogar nach
Patelhó. Dort ist die Realität schockierend: Über 20 Jahre war die Stadt
in den Händen des organisierten Verbrechens – bis vor einigen Monaten. Denn
nach zahllosen Gewalttaten gegen die Einwohner*innen (etwa 200 Morde und alle
möglichen Arten von Verbrechen wie Raubüberfälle, Entführungen, Vergewaltigungen
usw.) organisierten sich die Einwohner*innen nun selbst, bewaffneten sich sogar
und vertrieben „die Bösen“. Padre Marcelo stand immer
auf der Seite der Opfer und ermutigte sie, sich zu organisieren und ihre Angst
zu überwinden.
Und bei allen Begegnungen und an all den
Orten, an denen wir Padre Marcelo begleiten durften, konnten wir erleben, dass
er ein einfacher, liebenswürdiger, neugieriger, auch sehr mutiger und sogar lustiger
Mann ist sowie ein Liebhaber der Musik; auch der revolutionären Musik.
Diese ländlichen Gemeinden in Chiapas sind extrem arm. Der mexikanische Staat
scheint nur wirtschaftliche Interessen zu vertreten, nicht aber das Elend zu
bekämpfen. Die dort lebenden Menschen sind
entfremdet. Extreme Armut, Gewalt, Korruption und Straflosigkeit machen das Leben
sehr schwer... Und Padre Marcelo hört diesen Menschen zu.
Und indem er ihnen zuhört, „behält er den Schmerz in seinem Herzen“, damit er
mit diesen Menschen gemeinsam den Weg bestreiten kann.
Beten reicht nicht aus
Ich war sehr beeindruckt
von der Begegnung mit Padre Marcelo. Er hat etwas Mystisches an
sich. Etwas, dass ihn „schweben“ lässt, wo immer er
auch geht... Vielleicht ist es seine Motivation, Seite
an Seite mit den Armen zu gehen, dass man, wo immer er ist, von Hoffnung
erfüllt ist. Ja, man spürt den Geist des Kampfes und
der Befreiung.
Und die Angriffe, die er erleidet, die von
Verleumdungen – zum Beispiel wird er auf Social Media beschuldigt, der
Anstifter der bewaffneten Milizen von Pantelho zu sein – bis hin zu Drohungen
und Angriffen reichen, erträgt er mit Stoizismus. Auf ihn ist
sogar ein Kopfgeld ausgesetzt. Er weiß, dass sein Weg gefährlich ist. Aber, wie er bei seinen Treffen immer wieder betont: Es
reicht nicht, nur zu beten. Denn, wäre Jesus gekreuzigt
worden, wenn er nur gebetet hätte?
Für mich war es
eine Ehre, diesen Priester zu begleiten. Ich war beeindruckt von seinem Eifer,
seinem Nächsten zu helfen, dem Schmerz mit der Überzeugung zu begegnen, dass
Gerechtigkeit und Frieden, das Wichtigste ist. Und vor
allem muss ich zugeben, dass ich überrascht war, ausgerechnet in der Vision von
Padre Marcelo diesen Eifer zu finden, das derzeitige Wirtschaftssystem durch
ein gerechteres zu ersetzen – ein Eifer, den ich bisher nur von revolutionären
Menschen kannte, die sich meist Kommunisten oder Sozialisten nennen.
Hier sind einige
Auszüge aus Interviews, die ich mit Pater Marcelo geführt habe:
Gab
es in letzter Zeit Anekdoten, die Sie beeindruckt haben?
Padre
Marcelo: Nun, als mir eine Frau, María Vázquez, weinend von den neun
Verwandten erzählte, die umgebracht wurden... Tja, es gibt keine Worte, die
ich ihr geben konnte... Ich kann wirklich keine Worte
finden, um sie aufzumuntern. Wir haben beide
angefangen zu weinen. Oftmals ist es wichtig,
den Menschen einfach zuzuhören.
Was
fühlen Sie als Mensch, was fühlen Sie innerlich, wenn
Sie die Ungerechtigkeiten sehen, die es gibt?
Es macht mich im
Herzen sehr traurig, das Leid der Menschen zu sehen, es macht mich sehr
betroffen, aber ich bleibe nicht nur in der Traurigkeit, ich versuche auch,
vor Ort etwas zu tun, und daraus entstehen viele Ideen, was man gegen die
verschiedenen Ungerechtigkeiten tun kann.
Was
sind Ihre Ziele bei Ihrer Arbeit?
Ein Teil
unserer Arbeit ist die Verteidigung von „Land und Territorium“, die Liebe, der
Schutz und die Pflege von Mutter Erde. Auch gegen die globale Erwärmung oder gegen die Ausbeutung, die die Regierung durch die
Rohstoffunternehmen betreibt.
Die Menschen haben sich organisiert, um ihr
Land zu verteidigen. Ich sehe, dass die Menschen sehr ermutigt werden, wenn
sie sich selbst organisieren und die Kirche sich dieser Realität und dieser Situation
nicht verschließt. Ebenso werden die Menschen entmutigt, wenn die Kirche gleichgültig
ist, und noch mehr, wenn die Kirche die Menschen
auffordert, nicht zu kämpfen. Aber wenn sie sehen, dass die Kirche sich engagiert
und sie begleitet, dann ist das ein Teil der Freude
der Menschen.
Was
ist die Grundlage für Ihre Arbeit?
Meine Arbeit stützt sich auf vier
Grundlagen: Erstens, die Anerkennung der Lebenswirklichkeit der Menschen.
Zweitens: die Bibel. Drittens: das Lehramt der Kirche und viertens: die
Verpflichtung den Armen gegenüber..
Befolgen
Sie die Grundsätze der Befreiungstheologie?
Schauen Sie, ich arbeite nach meinen vier
Grundsätzen, und ich nenne es nie Befreiungstheologie, weil
dieser Begriff stigmatisiert ist. Ich denke, dass sogar
Papst Franziskus in der Praxis nach den Prinzipien der Befreiungstheologie
lebt, aber er benutzt diesen Begriff nicht, er nennt ihn nie so.
Ich bin ein praktischer Mensch, kein
theoretischer. Einige Leute haben mir gesagt, dass das, was ich tue, Befreiungstheologie sei. Ich antworte ihnen, dass ich
nicht an Begriffen interessiert bin, sondern dass ich
mit den Menschen gehe, ihnen zuhöre und mit ihnen leide. Wie
nennt man das? Ich weiß es nicht. Außerdem gerate ich auf diese Weise nicht in Streit. Viele
Menschen sind gegen die Befreiungstheologie, weil sie
sagen, sie sei marxistisch und falsch. Und ich bin an
diesen Diskussionen nicht interessiert. Ich begleite die Menschen einfach.
In
der Stadt Pantelhó organisierten sich die Einwohner nach 20 Jahren der
Herrschaft des organisierten Verbrechens mit unzähligen Verbrechen und
Gräueltaten und mehr als 200 Morden selbst und bewaffneten sich, bis es ihnen
gelang, die Verbrecher aus der Stadt zu vertreiben. Sie haben diesen Prozess
hautnah miterlebt, ja sogar begleitet, und manche
meinen, Sie hätten die Gründung der bewaffneten Milizen gutgeheißen. Stimmt das?
Ich habe nie gesagt, dass dies „richtig“ ist, sondern vielmehr, dass es eine Reaktion der Menschen
ist und dass die Kirche nicht mehr beteiligt ist. Sie verteidigen sich selbst,
sie verteidigen ihr Leben, sie können das Volk verteidigen, und deshalb will
ich persönlich nicht moralisieren, ob es richtig oder falsch ist. Das ist eine natürliche Reaktion, wie mir scheint.
Könnten
Sie mir in ein oder zwei Sätzen sagen, wofür Oscar
Romero für Sie steht?
Für mich
repräsentiert der heilige Oscar den Frieden für die Menschen. Er bezahlte mit
seinem Leben für seine Arbeit und seinen Kampf... Es motiviert mich sehr, zu wissen, dass er mehr als bereit war, sein
Leben für das Volk zu opfern und dass er während einer Messe sein Leben
opferte.
Sehen
Sie, dass die Menschen mit dem politischen und wirtschaftlichen System
unzufrieden sind?
Ja, das bestehende wirtschaftliche, politische
und soziale System hat uns entmenschlicht. Jetzt müssen wir
versuchen, ein System aufzubauen, das uns wieder menschlicher macht.
Was
bedeutet „Glaube“ für Sie?
Für mich bedeutet es, an den Gott des
Lebens, den Gott der Freiheit, den Gott des Friedens zu glauben und zu wissen,
dass mein Leben, meine Sicherheit, in seinen Händen liegt.
Sind
Sie sich bewusst, dass Ihr Leben in Gefahr ist?
Ich bin mir bewusst, dass jemand, der für
den Frieden kämpft, manchmal das Leben opfern muss. Für mich
ist der Frieden größer als mein eigenes Leben, größer als der Tod, der Frieden
der Menschen ist größer als Drohungen und Verleumdungen.
Stimmt
es, dass ein Preis auf Ihren Kopf ausgesetzt ist?
Ja, zunächst 150.000 mexikanische Pesos, dann
wurde der Betrag auf 400.000 erhöht, bis er eine Million erreichte.
Fernando
Romero-Forsthuber, geboren
1983 in Sevilla als Sohn eines spanischen Vaters und einer österreichischen
Mutter, lebt seit 2000 in Wien, ist Vater von drei Kindern und bereist die
Welt, um Menschen die für eine gerechtere Welt kämpfen, filmisch zu
porträtieren. U. a. drehte er in Israel/ Palästina und
Lateinamerika. In den letzten Jahren arbeitete Fernando auch für den ORF
(zuletzt wurde im Religionsmagazin „Orientierung“ am
24. April 2022 ein Beitrag von ihm über Padre Marcelo ausgestrahlt).
Josef Pampalk:
THEO VAN ASTEN –
EIN KÄMPFER GEGEN KIRCHLICHES HERRSCHAFTSDENKEN
Zum
100. Geburtstag des früheren Generaloberen der „Weißen Väter“
Theo Van Asten wurde am 2. Juli 1922 bei
Eindhoven in Holland geboren, 1955 – 67 Professor für Bibelwissenschaft am
interregionalen Priesterseminar von Kipalapala in Tansania, 1957 – 67 dort
zusätzlich auch Rektor in einer mit viel Spannung geladenen Zeit: Einerseits
errang Tansania in diesen Jahren, wie die meisten Länder Afrikas, seine
Unabhängigkeit, anderseits ging die Kirche durch ihren größten Wandel im 2.
Vatikanischen Konzil. Anders als ‚normale‘ Professoren,
verbrachte Van Asten sehr viel Zeit mit den afrikanischen Studenten, die ihn
als einen der ihren akzeptierten, bis er 1967 als Delegierter zum
Generalkapitel des Ordens der „Weißen Väter“ nach Rom musste. Natürlich gab es im Orden neben konservativen auch progressive Tendenzen,
die ihn schließlich zum neuen Generaloberen wählten.
Als Konsultor der Kongregation pro
Propaganda Fidei (Glaubenskongregation) kam es bald zu Meinungskonflikten mit
ihr, weil diese in Rom ein zentrales Seminar für Priesterstudenten der Dritten
Welt durchsetzen wollte. Theo aber forderte mehr
Unterstützung für regionale Seminare in Afrika. Somit
wurde er von der Kongregation nie wieder eingeladen.
Am ärgsten verschärfte sich der Gegensatz
mit Anschauungen und Politik des Staatssekretariats des Vatikans, dem die
Missionen im portugiesischsprachigen Afrika unterstanden. Und das seit 500
Jahren in einem stets erneuerten Patronatssystem, welches die Evangelisierung
dem portugiesischen Staat anvertraute und seinen Interessen unterordnete, wie
es 1940/41 im Konkordat-Missionsvertrag mit dem Salazar-Regime ausdrücklich
bestätigt worden war.
Dies ließ zwangsweise die von der
Regierung selektierten und bezahlten Bischöfe in Mosambik wie seine Agenten
erscheinen, um den Koloniestatus zu rechtfertigen und zu perpetuieren, und
mehrere waren es tatsächlich. Angesichts kolonialer Ungerechtigkeiten und militärischer
Gräueltaten hatte 1964 auch in diesem Land der bewaffnete Befreiungskrieg
begonnen und die Missionare vor Ort konnten nicht neutral oder
schweigsam bleiben. Einige Weiße Väter waren in den 1960er
Jahren des Landes verwiesen worden, wozu Bischöfe und Vatikan geschwiegen
hatten. Für die übrigen ca. 40 stellte sich daher zuerst die Frage, ob
ein gemeinsamer öffentlicher Protest und Rückzug als
ein deutliches Zeichen von ihnen erforderlich wäre, zweitens ob sie damit die
Einheit der Kirche zerstören würden. In ganz Mosambik bildete die Diözese
Beira die Avantgarde der post-konziliären Erneuerung und den Fokus der pastoralen
und politischen Auseinandersetzungen. In ständigem Austausch
mit dem General in Rom reifte ein in der Geschichte erstmaliger Entschluss
heran, der wie ein Schock wirken sollte.
Nach mehreren unbeantworteten Briefen
Theos an die zuständigen Bischöfe und Konsultationen
in Rom, die zu keinen Lösungen führten, reiste Van Asten zweimal nach Mosambik:
zuerst Anfang 1971, um eine geheime Abstimmung der Missionare über einen
folgenschweren Protest durchführen zu lassen. Diese sahen
ein, dass nicht sie eine Spaltung einführen würden, sondern sie die existierende
zwischen Herrschaftskirche und Unterdrückten aufdecken und bloßstellen
würden. So entschied sich die große Mehrheit für den Protest. Van Asten
flog nach Rom und kam vier Monate später zurück, um den offiziellen Entschluss
des Generalrates (15. Mai 1971) mitzuteilen: nämlich wir werden aus Protest das
Land zu Ende des Schuljahres verlassen, weil sowohl
die Bischöfe wie das römische Staatssekretariat zur systematischen und
ungerechten Behandlung der Missionare und Katechisten geschwiegen haben. Kardinalstaatssekretär
Villot hatte nichts tun können oder wollen, die Entscheidung
also Van Asten als Generaloberem überlassen. Es war wohl seine schwierigste,
aber auch bestmöglich abgestimmte mit allen direkt
oder indirekt Betroffenen, wie etwa anderen Missionsorden und den Laien vor
Ort.
Der Kolonialstaat fühlte sich verraten und
verfügte den Landesverweis aller Weißen Väter binnen 48 Stunden. Kardinal Villot und der Vatikan verziehen Van Asten den Entschluss
nie mehr.
Die entgegengesetzten Standpunkte waren
unvermeidlich auf den Bischofssynoden 1971 und 1974, an denen Van Asten als
gewählter Delegierter von der Vereinigung der Generaloberen (USG) aktiv
teilnahm. Beim ersten ging es um das ministerielle Priestertum und Van Asten
war Berichterstatter der Diskussionsbeiträge zur Weihe von viri probati, die
aber der vorsitzende Kardinal strich. Theo machte einen weiteren Beitrag in
der Generalversammlung über die schwierige finanzielle Situation afrikanischer
Priester und einen zweiten Teil über die Frage des Pflichtzölibats. Um diesen Teil zu unterdrücken, bekam Van Asten nur drei Minuten
Redezeit zugestanden. Schlauerweise las er den ersten nicht vor, sondern
nur seinen kritischen 2. Teil, wo er über die falschen
Prioritäten und die Inversion der evangelischen Werte bei Klerus und Kurie
sprach. Bei einer Schlussabstimmung über die Notwendigkeit des Zölibats
stimmten 87 dagegen, 107 dafür, z. T. nur weil von der
Kurie unter Druck gesetzt - auch finanziell. Inzwischen
hatte Theo Magengeschwüre, später sogar perforierte Geschwüre in Pankreas und
Duodenum bekommen.
Auf der zweiten Bischofssynode 1974 stand
die Evangelisierung auf der Tagesordnung, Van Asten war erneut Delegierter und
sprach in einer ersten Intervention über die Glaubwürdigkeit der Kirche, die
sichtbar mehr der kapitalistischen Kultur als dem Evangelium und der Gerechtigkeit
verpflichtet war; in seiner zweiten Intervention sprach er über die vitale und
vielfältige Rolle der Lokalkirchen, die im Arbeitspapier (instrumentum laboris)
und im Diskurs von Kardinal Wojtyla total übergangen worden war. Sein Beitrag
wurde wiederum als Angriff auf die reiche und
patriarchale Zentrale aufgefasst und verurteilt.
Kardinal Döpfner hatte Van Astens
Intervention 1971 noch unterstützt, aber Kardinal Suenens hatte ihn vor 1974
gewarnt, dass Papst Paul VI. inzwischen weiter weg vom
Einfluss progressiver Bischöfe und ganz in die Arme Konservativer geraten war
und dass der zentralistische Trend dominierend geworden sei mit unglücklichem
Krisenmanagement, wie z. B. in Bezug auf die holländische Kirche, Humanae
vitae...
1974 stand außerdem ein Generalkapitel des
Ordens an. Van Asten wurde eingeladen, sich einer Neuwahl als
Ordensgeneral zu stellen. Er lehnte ab, da er als
Feindbild der Kurie galt, ohne Chancen für eine positive Zusammenarbeit mit
römischen Schlüsselstellen. Jesuiten-General P. Arrupe S.J., Präsident der USG,
und Kardinal Zoungrana, Präsident der Panafrikanischen Bischofskonferenz,
wollten Van Asten für den neu geschaffenen Posten des Generalsekretärs, um die
noch schwache Kooperation zwischen beiden zu fördern. Doch der Vatikan legte
sein Veto ein gegen diese Ernennung, weil sie Van
Asten für einen Rebellen hielten, den sie von einflussreichen Positionen
fernhalten wollten. Theos angeschlagene Gesundheit
erlaubte ihm auch nicht mehr, an eine Rückkehr in den afrikanischen Busch zu
denken. Er selbst sagte: „Am Ende meiner
Funktion als Generaloberer fühlte ich mich enttäuscht
und verstoßen von der Kirche, die ich immer geliebt und der ich immer gedient
hatte“.
Allein im Regen stehen gelassen, kam vom
Sitz der FAO in Rom die Einladung, seine Erfahrung und Kompetenz in den Dienst
des vor gut zehn Jahren gegründeten Welternährungsprogramms (WFP) und der
Internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu stellen. So arbeitete Theo Van
Asten an der Gestaltung und Evaluierung der Programme bis zu seiner Pensionierung
und konnte sein Engagement in einem säkularen Umfeld weiterleben und
erweitern, nachdem er den Orden verlassen und geheiratet hatte. Er lebte
zurückgezogen mit seiner Frau Antoinette in St. Chinian, Südfrankreich, bis zu seinem Tod 2019.
Dr. Josef Pampalk, geb. 1937, war in den 1960er Jahren als
Priester des katholischen Missionsordens „Weiße Väter“ in
Mosambik tätig. Er trug gemeinsam mit seinen Ordensbrüdern und dem
Ordensgeneral Theo Van Asten 1971 den Beschluss mit, aus Protest gegen die
portugiesische Kolonialpolitik und deren Unterstützung durch die offizielle
katholische Kirche Mosambik zu verlassen. Gemeinsam mit anderen engagierten
KatholikInnen tritt Pampalk dafür ein, Van Asten posthum die „Trompete von
Jericho“ zu verleihen, eine Auszeichnung der österreichischen
Kirchenreformbewegungen „Kirche von unten“, „Priester ohne Amt“ sowie Laien-
und Priester-Initiative.
BUCHTIPP:
Munther ISAAC: Die andere Seite der Mauer. Eine Palästinensische Erzählung von Klage und Hoffnung (Vorwort von
Konrad Raiser). Berlin: Aphorisma, 2021, 210 Seiten, € 16,--.
Munther Isaac ist
als Nachfolger des bekannten palästinensischen Befreiungstheologen Mitri Raheb
Pfarrer der lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem und gleichzeitig
akademischer Dekan des Bethlehem Bible College. In seinem Buch spricht eine
authentische palästinensische Stimme, die fragt, warum im Westen – in Kirche
und Gesellschaft – palästinensische Stimmen nicht willkommen sind
und sogar zum Schweigen gebracht werden. Darum ist es ein zentral notwendiges
Buch für alle, die noch wissen, dass im Leib Christi, wenn ein Glied leidet,
alle gerufen sind, mitzuleiden. Sie können hier die Realität, um die es in
Palästina/Israel geht, nicht in abstrakten Worten, sondern anschaulich erfahren:
Was die Menschen erleben – seit 75 Jahren und besonders seit 55 Jahren, der
völkerrechtswidrigen Besetzung der palästinensischen Gebiete. Sie können diese
Geschichte verstehen lernen, und wie bis heute die Lebensbedingungen jedes Jahr
schlechter werden. Sie erhalten die Analyse, warum es sich nach
völkerrechtlichen Kriterien in Israel/Palästina um ein Apartheidsystem
handelt, wie inzwischen von vielen Menschenrechtsorganisationen und der UNO
festgestellt. Sie werden über die Rolle des christlichen Zionismus als imperialer Theologie aufgeklärt, der das Unrecht der
Vertreibungen, der Häuserzerstörungen, der willkürlichen Erschießungen,
Verhaftungen und Folter mit dem Missbrauch der Bibel rechtfertigt. Dabei geht
es nicht nur um die US-Evangelikalen mit ihren abstrusen Behauptungen wie der,
durch die jüdische Einnahme des gesamten Landes würde die die Ankunft des
Messias beschleunigt. Auch deutsche Kirchen sind betroffen.
Z. B. beschloss die Synode der Ev. Kirche im Rheinland 1980, dass nicht nur
das Überleben des jüdischen Volkes, sondern die Gründung des Staates Israel ein
„Zeichen der Treue Gottes“ sei. Das bedeutet für
Palästinenser im Blick auf 1947/1948: Die Zerstörung von 530 ihrer Dörfer, die
verschiedenen Massaker, die Vertreibung von 750 000 Flüchtlingen, davon 250
000 noch unter englischer Mandatsherrschaft, alles zusammen „Nakba“/ Katastrophe
genannt, wären Zeichen der Treue Gottes. Auch der
christlich-jüdische Dialog nach dem 2. Weltkrieg wurde von einer
dringend notwendigen Aufarbeitung des christlichen Anti-Judaismus als eine der
Wurzeln des Holocaust zu einem Deal, Deutschland wieder im westlichen Imperium
willkommen zu heißen um den Preis, zur Unterdrückung der Palästinenser zu
schweigen, wie der jüdische Befreiungstheologe Marc Ellis nachwies.
Isaac hat eine Dissertation über die
biblisch-theologische Frage des Landes geschrieben und gibt hier eine knappe
Summe seiner Erkenntnisse wieder: Gott gehört das Land, Gott gibt das Land an
ein Volk und würdigt es eines besonderen wechselseitigen Bundes, damit in einem
konkreten Fall Gottes Gerechtigkeit zum Leuchten kommt, um schließlich die
gesamte Erde im Sinn Gottes zu gestalten (es soll ein Segen sein für alle
Völker, Gen 12,3). Wenn diese
Mission verraten wird, wird das Land genommen. Denn es ist kein Besitz für Privilegierte. Isaacs Botschaft ist angelehnt an das Kairos Palästina Dokument: Durch Widerstand
gegen Unrecht Liebe zu üben gegenüber jüdischen, muslimischen und allen Mitmenschen.
Das ist möglich über die praktische Umsetzung der Bergpredigt,
Jesu zentrales Vermächtnis. Hierfür konkrete Beispiele darzustellen, ist eine der weiteren Stärken des Buches.
Das Wichtigste für westliche ChristInnen
und Kirchen an diesem Buch ist, dass sie die Faktoren kennen lernen, die sie
daran hindern, die Stimme der Leidenden zu hören und für die Beendigung ihrer
Leiden einzutreten. Gleichzeitig können sie bewundern lernen, wie ein Christ
und Theologe unter ähnlichen Bedingungen wie Jesus – damals unter römischer
Besatzung – versucht, diesem im wörtlichen Sinn nachzufolgen und seine
Landsleute zu ermutigen, das Gleiche zu tun und nicht das Land zu verlassen,
was leider immer mehr ChristInnen aus menschlich verständlichen Gründen
getan haben. Ich wüsste kein Buch, das so direkt zugleich biblisch und
menschlich den Weg weist, prophetisch leben zu lernen, das heißt in diesem
Fall, dazu beizutragen, dass beide Völker, das jüdische und palästinensische,
eine gemeinsame Zukunft finden. Denn nur gemeinsam haben sie
eine Zukunft.
Ulrich Duchrow