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aus:
Leonardo Boff:
WARUM IST
GESELLSCHAFTSPOLITISCHES ENGAGEMENT HEUTE SO SCHWIERIG?
Wir erleben derzeit einen besorgniserregenden Rückzug der
Basis und verschiedener sozialer Bewegungen, vor allem der politischen, aus dem
Engagement für die Umgestaltung der Gesellschaft, sei es auf nationaler oder
globaler Ebene. Es ist wichtig zu erkennen, dass es ein starkes Gefühl der
Ohnmacht und auch der Melancholie gibt. Abgesehen davon erleben wir auch, dass
die Universitätsjugend in den zentralen Ländern (USA und Europa) gegen die
unverhältnismäßige, wahllose und völkermörderische Reaktion des Staates Israel
gegen die Bevölkerung des Gazastreifens als Reaktion auf den Terrorakt der Hamas
am 7. Oktober letzten Jahres rebelliert.
Das politische Establishment, das die Welt vom globalen
Norden aus dominiert, reagiert mit ungewöhnlicher Gewalt gegen die Demonstranten.
In Deutschland wird jede Demonstration für die Palästinenser im Gazastreifen
offiziell verboten und dann beim kleinsten Anzeichen von Unterstützung für die
palästinensische Sache und gegen den dort stattfindenden Völkermord
unterdrückt. In den USA nimmt die polizeiliche Repression gewaltsame Züge an,
die sich gegen Studenten und Universitätsprofessoren und sogar gegen einen
Präsidentschaftskandidaten richten.
Bei uns in Brasilien und in Lateinamerika im Allgemeinen
gibt es keine öffentlichen Demonstrationen, nicht einmal gegen den Völkermord,
insbesondere an 14.000 kleinen Kindern, und den Tod von etwa 80.000 Bürgern
unter schwerem israelischen Bombardement, bei dem in krimineller Weise
künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt wird, um bestimmte Menschen und ihre
gesamten Familien in ihren eigenen Häusern zu ermorden.
Wir müssen versuchen zu verstehen, warum diese Trägheit
entstanden ist. Ich werde einige Punkte erwähnen, die uns einen Einblick in die
derzeitige Situation geben, sowohl angesichts der ernsten Lage in der Ukraine,
die von der russischen Brutalität verwüstet wird, als auch angesichts des Massakers
und des Völkermords im Gazastreifen.
In weiten Teilen der Gesellschaft, insbesondere im Globalen
Süden, aber auch in Teilen des Globalen Nordens, herrscht ein starkes Gefühl
der Ohnmacht. Erstens hat sich das kapitalistische System in seiner
verschärftesten Ausprägung des Neoliberalismus der Wiener/ Chicagoer Schule objektiv
der ganzen Welt aufgezwungen. Diejenigen, die sich dagegen wehren, sind
politischer und ideologischer Unterdrückung und schließlich Staatsstreichen
ausgesetzt, wie im Fall der Amtsenthebung von Dilma Russeff. Ziel ist es, das
durchzusetzen, was Carl Polanyi 1944 „Die große Transformation“
nannte: den Übergang von einer Marktgesellschaft zu einer reinen Marktgesellschaft.
Mit anderen Worten, alles wird zur Ware: menschliches Leben, Organe, Saatgut,
Wasser, Lebensmittel, alles wird auf den Markt gebracht und erhält seinen
Preis. Dies wurde bereits 1847 von Karl Marx in „Das Elend der Philosophie“
vorausgesagt.
Diese objektive Tatsache ruft eine subjektive Reaktion
hervor: Man beginnt, die Welt ohne Hoffnung zu sehen, dass es keine brauchbare
Alternative zu dieser globalisierten Ungeheuerlichkeit gibt. Dies wird durch
TINA (There is no Alternative) ausgedrückt: „Es gibt keine Alternative“.
Die Folge ist ein Gefühl der Ohnmacht und verdrängte Enttäuschung. Dies führt
zu einer defätistischen Haltung, die besagt, dass es sich nicht lohnt, gegen
das System anzugehen, weil es zu groß ist und wir zu klein sind. Sie sind gezwungen,
Zugeständnisse zu machen, um in einer zutiefst ungleichen und ungerechten Welt
zu überleben, was Melancholie erzeugt. Melancholie bricht aus, wenn es kein
Licht am Ende des Tunnels gibt. Warum sollte man sich also für eine Alternative
einsetzen, die keine Aussicht auf Erfolg hat? Diese Art von Welt ist
hoffnungslos, denken nicht wenige. Wir müssen uns an sie anpassen, um so wenig
wie möglich zu leiden.
Ein zweiter Punkt ist die perverse Strategie des
herrschenden Systems: die Schaffung einer Kultur des Konsums. Es werden so
viele begehrenswerte Objekte wie möglich angeboten, auch wenn mehr als 90 %
davon völlig nutzlos und unnötig sind. Es geht darum, eine der mächtigsten
Kräfte der menschlichen Psyche zu manipulieren: das Begehren, dessen Natur
bereits von Aristoteles erkannt und von Freud als unbegrenzt
bestätigt wurde. Namhafte Psychologen (z. B. Mary Gomes und Allen
Kenner) haben bereits gesagt, dass „dies das größte psychologische
Projekt ist, das die menschliche Spezies je hervorgebracht hat“: zu
verhindern, dass die Bürger sich als Bürger verstehen und zu einfachen Konsumenten
und konsumsüchtigen Verbrauchern werden.
Um sie zu verführen, werden Billionen von Dollar für die
Werbung in den Massenmedien und mit allen möglichen Mitteln der Verführung ausgegeben.
Dies entspricht dem Sechsfachen der jährlichen Investitionen, die erforderlich
sind, um der gesamten Menschheit hochwertige Lebensmittel, Gesundheit, Wasser
und Bildung zu garantieren. Eine größere Perversität kann man sich kaum
vorstellen. Aber sie ist in der allgemeinen Lebenswiese der Menschheit, die
daraus hervorgegangen ist, vorherrschend.
Verinnerlichte Ohnmacht und Melancholie führen dazu, dass
die Mehrheit der Menschen, und leider auch die jungen Menschen, nicht ermutigt
werden, sich sozial und politisch in einer Bewegung oder einem Projekt zur
Veränderung zu engagieren. Die Bildung in formalen Institutionen ist entscheidend
für die Sozialisierung dieser Lesart der Realität. Vandana Shiva, eine
große Wissenschaftlerin und feministische Ökologin aus Indien, nennt dies die „Monokultur
der Köpfe“. Diese Monokultur erzeugt bei den Schülern das naive Bewusstsein,
dass dies die gute und wünschenswerte Welt ist. Sie erkennen nicht, dass sie
vom herrschenden System vereinnahmt und zu dessen Reproduzenten gemacht werden.
Gegen all dies setzte Paulo Freire sein
erzieherisches und befreiendes Projekt, das mit der „Pädagogik der
Unterdrückten“ und der „Erziehung als Praxis der Freiheit“ begann
und mit der „Erziehung mit Liebe und Hoffnung“ endete. Er prägte den
Ausdruck „hoffen“: sich nicht zurücklehnen und darauf warten, dass sich
die Dinge von selbst ändern, sondern die Bedingungen dafür schaffen, dass die
Hoffnung ihre transformativen Ziele erreichen kann.
Wie können wir uns von einem naiven, manipulierten
Bewusstsein befreien? Der Prozess der Bewusstseinsbildung reicht nicht aus,
denn kritisch zu verstehen, was geschieht, bedeutet nicht, zu ändern, was
geschieht. Wir müssen zu einer alternativen Praxis übergehen und dem
herrschenden System ein anderes, egalitäres, nicht konsumorientiertes Gesellschaftsparadigma
entgegensetzen, das solidarisch ist mit einer Produktionsweise, die auf den
Rhythmen der Natur basiert (Agrarökologie und Kreislaufwirtschaft), und einer
anderen Art von ökologisch-sozialer Demokratie von unten nach oben, in der die
Rechte der Natur und der Mutter Erde anerkannt werden, um das Ganze, die
Menschheit und die Natur, im großen gemeinsamen Haus, der Mutter Erde, zu
schaffen.
Übersetzt von Bettina Goldhacker
Quelle: https://leonardoboff.org, 5. 5. 24
Leonardo Boff, Dr. theol., Prof. em., geb. 1938 in
Concordia (Santa Caterina, Brasilien) ist einer der Gründerväter der Theologie
der Befreiung und weltweit einer der erfolgreichsten spirituellen
Schriftsteller. Boff war katholischer Ordenspriester, hat sein Amt aber nach
Konflikten mit dem Vatikan zurückgelegt. Für sein ökologisches Engagement bekam
er zahlreiche internationale Auszeichnungen, darunter den alternativen
Nobelpreis. Im Jahr 2000 gehörte Boff zu den Initiatoren der internationalen
Initiative „Erd-Charta“
Frei Betto:
VÖGEL, DIE NICHT FLIEGEN
Die erste Generation des digitalen Zeitalters
Ich kann mir nur vorstellen, wie die
Menschen, die zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert lebten, angesichts so vieler
Paradigmenwechsel gedacht haben! Sie haben buchstäblich den Untergang des
Himmels miterlebt. Der Glaube, die tragende Säule des Mittelalters, wurde durch
das Aufkommen der Wissenschaft gestürzt. Engelsscharen wichen maritimen
Entdeckungen. Ptolemäus, das Idol der Leugner, wich Kopernikus und Galilei.
Voltaires Optimismus über den Einbruch
der Moderne, der von seinen geliebten Töchtern, der Wissenschaft und der
Technik, unterstützt wurde, hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Auf die
Knechtschaft des Feudalismus folgte die Unterdrückung durch den Kapitalismus.
Die Prognosen der Aufklärung bewahrheiteten sich nicht: Trotz Nietzsches
atheistischem Glauben erstarkten die Religionen in der Postmoderne, und das
Dogma des unbefleckten Konzepts der wissenschaftlichen Neutralität verblasste
in den Atompilzen von Hiroshima und Nagasaki.
Das Kapital ist der Herr der Welt
geworden. Es ist der Gott Mammon, dem wir alle Anbetung schulden. Nichts steht
über ihm, seien es Gesetze, Menschenrechte oder Grenzverläufe. Es hat einen
Samson erschaffen, der alle Philister besiegt und dem noch kein David begegnet
ist, der ihn besiegen könnte.
Ihr mächtiges Herzstück sind die digitalen
Netze. Sie verursachen denselben erkenntnistheoretischen Bruch wie die
Philosophie von Descartes, die Physik von Newton und die Literatur von
Cervantes zu Beginn der Moderne. Und in der Postmoderne, durch die Quantenphysik,
den Tod der großen Erzählungen und die Entdeckung des Unbewussten.
Mit dem Aufkommen des Elektromotors im
19. Jahrhundert sind drei Generationen von Kommunikationsgeräten entstanden:
das Radio, das wir hören, das Fernsehen, das wir sehen, und die digitalen Netze,
mit denen wir interagieren. Während wir angesichts von Radio, Fernsehen, Kino
und Printmedien passive Objekte sind, geben uns die digitalen Instrumente das
Gefühl, Protagonisten zu sein. Wir haben das Gefühl, den Gipfel der Meinungsfreiheit
erreicht zu haben. Der Konsens der Mehrheit, der von der Hegemonie der
Minderheit diktiert wurde, ist vorbei. Jetzt ist jeder König oder Königin in
seiner eigenen Blase. Wir sind wieder einmal tribalisiert. Ohne uns der
Tatsache bewusst zu sein, dass wir in Wirklichkeit von einer ausgeklügelten
Technologie manipuliert werden, die uns einen virtuellen Chip einpflanzt und
uns dazu bringt, uns selbst als Bürger abzutun, um uns auf den Status von
bloßen Konsumenten zu reduzieren.
Was sind die Folgen einer solch
abrupten Erkenntnisrevolution? Kinder und Jugendliche haben heute einen
doppelten (Ent-)Bildungsraum: den institutionellen (Familie, Schule, Kirche
usw.) und den digitalen (Google, TikTok, Instagram, X, Facebook, YouTube usw.).
Da es sich um antagonistische Räume handelt, entsteht ein Konflikt in der
Subjektivität. Die Tendenz geht dahin, dass sich das Digitale gegenüber dem
Institutionellen durchsetzt. In der digitalen Welt findet jeder seinen eigenen
Stamm, der die gleiche lautmalerische Sprache spricht. Und sie schaffen sich
ihre eigenen Werte, ohne auf die autoritäre Stimme von Eltern, Lehrern,
Geistlichen und Politikern zu hören. Dort ist jeder Nutzer "primus inter
pares", kein Kind, Student, Gläubiger oder Wähler.
Es gibt jedoch ein ernstes Problem.
Stellen Sie sich vor, Sie reisen auf dem Landweg von São Paulo nach Rio de
Janeiro, ohne Straßen, Karten, Wegbeschreibung oder Fahrzeuge. Das Leben
besteht aus Paradigmen, Referenzen, Werten und Zielen. Wenn nichts davon fest
ist, weil wir in der von Marx vorhergesagten „flüssigen Gesellschaft“ (Bauman)
leben („alles, was fest ist, löst sich in Luft auf“), fühlen wir uns verloren.
Denn die Zeit wartet nicht. Und wer den Weg nicht kennt, hat keinen Horizont
für die Zukunft. Er gerät in den Strudel des Hier und Jetzt, ohne dass das Leben
seine Linie der Geschichtlichkeit in der Zeit findet.
Daher die vielen jungen Menschen, die
sich weigern zu reifen. Ohne logische Sprache, als Geiseln des prekären
telegrafischen Dialekts der Netze, als Gefangene ihrer virtuellen Spiele,
treiben sie im Meer des Lebens, ohne Kompass. Sie sind Vögel und wissen nicht,
wie man fliegt. Als Erwachsene, die noch unter dem Dach der Familie leben,
sehen sie aus wie Schiffbrüchige, die sich an die Trümmer einer untergegangenen
Epoche klammern, weil sie nicht schwimmen gelernt haben. Sie schreien um
Hilfe! Sie wissen nicht einmal, was eine Utopie ist – was sie aus diesem
Strudel retten könnte, der sie wie ein Abflussrohr in ein einkaufszentriertes,
ständig von den digitalen Netzen überwachtes Leben zieht. Viele leiden unter
Nomophobie, der Sucht nach dem Mobiltelefon. Es ist leicht zu erkennen, ob Sie
bereits von dieser Krankheit befallen sind: Schalten Sie Ihr Handy aus, wenn
Sie ins Bett gehen?
Ich weiß nicht, was die Zukunft für
diese erste Generation bringen wird, die vom analogen ins digitale Zeitalter
gewechselt hat. Die Symptome sind jedoch nicht ermutigend: zunehmender Hass,
das Wiederauftauchen der neonazistischen Rechten, eine produktive Wirtschaft,
die von einer spekulativen Wirtschaft verdrängt wird, eine Zunahme
krimineller Formen der Diskriminierung (Homophobie, Fremdenfeindlichkeit,
Rassismus, Frauenfeindlichkeit usw.). Verleugnung, Aufhebung und
Polarisierung kommen ins Spiel. Ethische Werte werden ausgehöhlt, der Ökozid
nimmt zu und die Menschenrechte werden ins Lächerliche gezogen.
Während wir ratlos auf die Sintflut in
Rio Grande do Sul starren, ist uns nicht bewusst, dass wir uns am Rande des
Abgrunds befinden. Es gibt keine Brücke namens Utopie, die uns ins Trockene
bringen könnte. Wie die Natur, die uns nicht braucht und verschiedene Arten wie
die Dinosaurier ausgelöscht hat, sind wir Menschen dabei, uns selbst zu
vernichten, wie der Ouroboros, die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz
beißt.
Noch ist Zeit, das Schlimmste zu
verhindern, wie die Förderung des kritischen Denkens, die Einführung des
dialektischen Denkens anstelle des analytischen Denkens und vor allem die
Regulierung der Netzwerke und ihrer Plattformen.
Quelle; www.freibetto.org/artigos/,
20. 5. 24
Frei Betto („Bruder Betto“;
bürgerlicher Name: Carlos Alberto Libanio Christo), geb. 1944 in Belo
Horizonte, ist ein Dominikanermönch und Befreiungstheologe aus Brasilien. Er
hat viele Auszeichnungen für seinen Einsatz für die Menschenrechte erhalten.
Neben dem Bruno-Kreisky-Preis für Menschenrechte erhielt er u. a. den Preis
der Schwedischen Stiftung für Menschenrechte sowie den Right Livelihood Award
(„Alternativer Nobelpreis“). Betto ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. „Nachtgespräche
mit Fidel“.
BUCHTIPP:
Wolfgang Palaver, Für den Frieden kämpfen. In Zeiten des Krieges von Gandhi und Mandela lernen.
Friedensethische Überlegungen. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2024. 120 Seiten, Euro
18,00.
Wolfgang Palaver beginnt seine
friedensethische Studie über Mahatma Gandhi und Nelson Mandela sowie deren
Bedeutung für die aktuelle Friedenspolitik mit einem Einblick in seine
persönliche Biographie. Den Namen „Gandhi“ hörte er als Kind erstmals von
seinem Hausarzt wegen seines damals schmächtigen und mageren Körpers. Später
nahm er als Aktivist der Katholischen Studierenden Jugend an einem Seminar von
Hildegard Goss-Mayr und Jean Goss teil, bei dem er mehr über den gewaltfreien Kampf Mahatma Gandhis
für die Unabhängigkeit Indiens erfuhr. Dieses Seminar inspirierte ihn zur
Wehrdienstverweigerung und zur Ableistung des Zivildienstes (1978/79) sowie
Anfang der 1980er zum Engagement in der Friedensbewegung und dann zum Studium
der katholischen Theologie an der Universität Innsbruck. Palaver gehörte zu den
Gründungsmitgliedern der Pax-Christi-Landesgruppe Tirol und nahm auch an
internationalen Konferenzen von Pax Christi teil. Von 1993 bis 1996 war er
Vizepräsident von Pax Christi Österreich. Nach einer „Pause“ von
23 Jahren ist er seit April 2019 Präsident, eine Funktion, die früher Bischöfen
vorbehalten war.
1987 wurde Palaver in Innsbruck
Assistent am Institut für Moraltheologie und Gesellschaftslehre bei Univ.-Prof.
Herwig Büchele, der die hundertbändige Gesamtausgabe der Werke Gandhis für die
Institutsbibliothek anschaffte. Palavers Schwerpunkt lag auf der
friedensethischen Betonung der Gewaltfreiheit – auch bei seiner Dissertation
und Habilitation. Von 2002 bis 2023 leitete Wolfgang Palaver dann selbst dieses
Institut. Er schreibt: „Wirklich bedeutend wurde für mich Gandhi aber erst
nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.“ (12). An Gandhi
faszinierte ihn nicht nur die Gewaltfreiheit, sondern auch seine „offene
Haltung gegenüber den unterschiedlichen Religionen“, ja er sah „eine
grundsätzliche Gleichheit der Religionen“ (13), wobei für ihn feststand, „dass
der Islam genauso wie das Christentum, der Buddhismus und der Hinduismus eine
,Religion des Friedens’ ist.“
Im Herbst 2018 nahm sich Wolfgang
Palaver ein Forschungssemester, das er gemeinsam mit drei KollegInnen am Center
of Theological Inquiry an der Princeton University in New Jersey zum Thema „Religion
und Gewalt“ absolvierte. Dort entstand die Idee, ein neues Projekt am
Stellenbosch Institute of Advanced Study in Südafrika zu beantragen, das sich
auf das von Gandhi in Südafrika entwickelte Konzept der aktiven Gewaltfreiheit
konzentrieren sollte. Die Forschungsarbeit der vier internationalen
Wissenschafter dauerte von Jänner bis Juni 2021 und fand in einer Sondernummer
der Zeitschrift „Religions“ zum Thema „Nonviolence and Religion“
ihren Niederschlag. (Im Internet kostenlos downloadbar:
https://mdpi.com/books/reprint/7090-nonviolence-and-religions).
Obwohl der gemeinsame Ausgangspunkt
des Forschungsprojekts Mahatma Gandhi war, drängte sich für die Gruppe die
Frage nach dem Verhältnis zwischen Gandhi und Nelson Mandela zwangsläufig auf
und sie entdeckte auch tatsächlich viele Verbindungen. Palaver fasst es kurz
zusammen: „Gandhi und Mandela berühren und unterscheiden sich in ihrem
Zugang zur Gewaltfreiheit. Während Gandhi sie für eine grundsätzliche Lebenshaltung
hielt, sah Mandela in ihr eher ein Instrument, das in bestimmten Situationen
hilfreich sein kann. Beide eint aber die
positive Sicht der Menschen, die sie grundsätzlich für friedensfähig halten.
Sie stimmen auch bezüglich der Eskalationsgefahr von Gewalt überein und
verstehen beide, dass sich das Verhältnis von Gewalt und Gewaltfreiheit nicht
auf ein simples Schwarz-Weiß-Schema reduzieren lässt.“ (20 f.)
Die drei folgenden Kapitel des Buches
(I. Frieden in Zeiten eines Dritten Weltkriegs in Stücken; II. Von Gandhi
und Mandela lernen: Die vorrangige Option für die Gewaltfreiheit; III.
Das Handwerk des Friedens ausüben) sind gewissermaßen eine „Nutzanwendung“ der
grundlegenden These von der „bevorzugten Option für die Gewaltfreiheit“
auf die aktuelle Situation. Dabei bringt Palaver auch immer wieder Papst
Franziskus ins Spiel, dessen Denken ganz auf dieser Linie liegt. Bezüglich des
russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine folgt der Autor allerdings ganz
der westlichen Erzählung, wonach der einzige Fehler des Westens darin
bestand, zu lange und vor allem ab 2014 zu „weich“ gegenüber Putin gewesen zu
sein. Die Vorgeschichte nach 1990 wird ebenso ausgeblendet wie die
geostrategischen Interessen von USA und NATO. Leider zitiert Palaver differenzierende
Aussagen von Papst Franziskus nicht: In der italienischen Zeitung „Corriere
della Sera“ hatte Franziskus schon im Mai 2022 vom „Bellen der Nato an
der Tür Russlands“ gesprochen. Einen Monat später präzisierte der Papst in
der Jesuitenzeitschrift „Stimmen zur Zeit“: Man solle sich vom „Rotkäppchen-Schema“
lösen, demzufolge Rotkäppchen „gut“ und der Wolf der „Bösewicht“
sei. Rotkäppchen steht hier für die Ukraine und den Westen, der Wolf für
Russland. In jener Auseinandersetzung „gibt es keine metaphysisch Guten und
Bösen auf abstrakte Art und Wiese“, sagte Franziskus. Stattdessen habe sie
globale Dimensionen „mit Elementen, die stark ineinander verwoben sind.“
(zitiert nach „Augsburger Zeitung“, 16. 6. 22). Außerdem kritisierte
Franziskus im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wiederholt die Interessen der
Rüstungsindustrie und des internationalen Waffenhandels – und er sprach sich
immer wieder für einen Waffenstillstand und Verhandlungen aus (was ihm in
westlichen Medien öfters den Vorwurf des „Putin-Verstehers“ eintrug).
Palaver zeigt sehr überzeugend die
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Gandhi und Mandela in Bezug auf
Gewalt/Gewaltfreiheit auf und hebt einen wesentlichen Aspekt besonders hervor:
„Mandelas wichtigster friedensethischer Beitrag für unsere Gegenwart war,
dass er klar die Vergebung der Vergeltung vorzog... Der Vorrang der Vergebung
schützt auch vor der so gefährlichen Eskalation der Gewalt.“ Der Autor
sieht hier auch eine Parallele zur Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst
Franziskus.
Im 3. Kapitel greift Palaver den Satz
des Philosophen Karl Jaspers auf: „Der Frieden beginnt im eigenen Haus“
und bekräftigt diese These mit einem Zitat von Papst Johannes Paul II. „Der
Friede ist weniger eine Frage der Strukturen, als vielmehr der Personen.“
Und auch Gandhi betonte, dass der Frieden bei einem selbst beginnen muss und es
keinen Frieden geben könne, solange Hass und Gewalt im Herzen vorherrschen (87
f.). Diese vor allem im kirchlichen Bereich weit verbreitete Auffassung scheint
mir allerdings empirisch kaum belegbar zu sein: dass z. B. die Schweiz oder
Schweden in den vergangenen Jahrhunderten in keine Kriege verwickelt waren, lag
wohl kaum an den friedfertigeren Bewohnern, sondern an internationalen
Faktoren. So wichtig auch der persönliche Bereich ist und Menschen auch privat
Gewaltfreiheit praktizieren sollen, über Krieg oder Frieden wird auf anderen
Ebenen entschieden. Da geht es um geostrategische, ökonomische und politische
Interessen. Palaver schwächt auch ab, wenn er Papst Franziskus zitiert: „Allerdings
ist es zur Lösung einer so komplexen Situation wie der, mit der sich die Welt
von heute auseinandersetzen muss, nicht genug, dass jeder Einzelne sich
bessert... Auf soziale Probleme muss mit Netzen der Gemeinschaft reagiert
werden, nicht mit der bloßen Summe individueller positiver Beiträge.“ (91
f.).
Zum Abschluss noch ein Zitat des
Autors, das als Resümee dieses lesenswerten Buches gelten kann: „Für Gandhi
und Mandela gilt, dass sie durch Gnade trotz aller Bedrängnisse und der immer
wieder neu aufbrechenden Gewalt nie die Hoffnung verloren haben. Hoffnung
gehört zu den notwendigen Tugenden von Friedensstifter:innen.“ (96)
Adalbert Krims