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KRITISCHES CHRISTENTUM

 

Nr. 478/479                                       Mai/Juni 2024

 

 

 

Leonardo Boff:

 

WARUM IST GESELLSCHAFTSPOLITISCHES ENGAGEMENT HEUTE SO SCHWIERIG?

 

Wir erleben derzeit einen besorgniserregenden Rückzug der Basis und verschiedener sozialer Bewegungen, vor allem der politischen, aus dem En­­ga­gement für die Umgestaltung der Gesellschaft, sei es auf nationaler oder globaler Ebene. Es ist wichtig zu erkennen, dass es ein starkes Gefühl der Ohnmacht und auch der Melancholie gibt. Abgesehen davon erleben wir auch, dass die Universitätsjugend in den zentralen Ländern (USA und Euro­pa) gegen die unverhältnismäßige, wahllose und völkermörderische Reaktion des Staates Israel gegen die Bevölkerung des Gazastreifens als Re­aktion auf den Terrorakt der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres rebelliert.

Das politische Establishment, das die Welt vom globalen Norden aus dominiert, reagiert mit ungewöhnlicher Gewalt gegen die Demonstranten. In Deutsch­land wird jede Demonstration für die Palästinenser im Gazastreifen offiziell verboten und dann beim kleinsten Anzeichen von Unterstützung für die palästinensische Sache und gegen den dort stattfindenden Völkermord unterdrückt. In den USA nimmt die polizeiliche Repression gewalt­sa­me Züge an, die sich gegen Studenten und Universitätsprofessoren und sogar gegen einen Präsidentschaftskandidaten richten.

Bei uns in Brasilien und in Lateinamerika im Allgemeinen gibt es keine öffentlichen Demonstrationen, nicht einmal gegen den Völkermord, ins­be­sondere an 14.000 kleinen Kindern, und den Tod von etwa 80.000 Bürgern unter schwerem israelischen Bombardement, bei dem in krimineller Weise künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt wird, um bestimmte Menschen und ihre gesamten Familien in ihren eigenen Häusern zu ermorden.

Wir müssen versuchen zu verstehen, warum diese Trägheit entstanden ist. Ich werde einige Punkte erwähnen, die uns einen Einblick in die derzeitige Si­tuation geben, sowohl angesichts der ernsten Lage in der Ukraine, die von der russischen Brutalität verwüstet wird, als auch angesichts des Mas­sakers und des Völkermords im Gazastreifen.

In weiten Teilen der Gesellschaft, insbesondere im Globalen Süden, aber auch in Teilen des Globalen Nordens, herrscht ein starkes Gefühl der Ohn­macht. Erstens hat sich das kapitalistische System in seiner verschärftesten Ausprägung des Neoliberalismus der Wiener/ Chicagoer Schule ob­jektiv der ganzen Welt aufgezwungen. Diejenigen, die sich dagegen wehren, sind politischer und ideologischer Unterdrückung und schließlich Staats­streichen ausgesetzt, wie im Fall der Amtsenthebung von Dilma Russeff. Ziel ist es, das durchzusetzen, was Carl Polanyi 1944 „Die große Trans­formation“ nannte: den Übergang von einer Marktgesellschaft zu einer reinen Marktgesellschaft. Mit anderen Worten, alles wird zur Ware: mensch­liches Leben, Organe, Saatgut, Wasser, Lebensmittel, alles wird auf den Markt gebracht und erhält seinen Preis. Dies wurde bereits 1847 von Karl Marx in „Das Elend der Philosophie“ vorausgesagt.

Diese objektive Tatsache ruft eine subjektive Reaktion hervor: Man beginnt, die Welt ohne Hoffnung zu sehen, dass es keine brauchbare Alternative zu dieser globalisierten Ungeheuerlichkeit gibt. Dies wird durch TINA (There is no Alternative) ausgedrückt: „Es gibt keine Alternative“. Die Folge ist ein Gefühl der Ohnmacht und verdrängte Enttäuschung. Dies führt zu einer defätistischen Haltung, die besagt, dass es sich nicht lohnt, gegen das Sy­stem anzugehen, weil es zu groß ist und wir zu klein sind. Sie sind gezwungen, Zugeständnisse zu machen, um in einer zutiefst ungleichen und un­gerechten Welt zu überleben, was Melancholie erzeugt. Melancholie bricht aus, wenn es kein Licht am Ende des Tunnels gibt. Warum sollte man sich also für eine Alternative einsetzen, die keine Aussicht auf Erfolg hat? Diese Art von Welt ist hoffnungslos, denken nicht wenige. Wir müssen uns an sie anpassen, um so wenig wie möglich zu leiden.

Ein zweiter Punkt ist die perverse Strategie des herrschenden Systems: die Schaffung einer Kultur des Konsums. Es werden so viele begehrenswerte Ob­jekte wie möglich angeboten, auch wenn mehr als 90 % davon völlig nutzlos und unnötig sind. Es geht darum, eine der mächtigsten Kräfte der menschlichen Psyche zu manipulieren: das Begehren, dessen Natur bereits von Aristoteles erkannt und von Freud als unbegrenzt bestätigt wurde. Nam­hafte Psychologen (z. B. Mary Gomes und Allen Kenner) haben bereits gesagt, dass „dies das größte psychologische Projekt ist, das die mensch­liche Spezies je hervorgebracht hat“: zu verhindern, dass die Bürger sich als Bürger verstehen und zu einfachen Konsumenten und kon­sum­süch­tigen Verbrauchern werden.

Um sie zu verführen, werden Billionen von Dollar für die Werbung in den Massenmedien und mit allen möglichen Mitteln der Verführung aus­ge­ge­ben. Dies entspricht dem Sechsfachen der jährlichen Investitionen, die erforderlich sind, um der gesamten Menschheit hochwertige Lebensmittel, Ge­sundheit, Wasser und Bildung zu garantieren. Eine größere Perversität kann man sich kaum vorstellen. Aber sie ist in der allgemeinen Lebens­wie­se der Menschheit, die daraus hervorgegangen ist, vorherrschend.

Verinnerlichte Ohnmacht und Melancholie führen dazu, dass die Mehrheit der Menschen, und leider auch die jungen Menschen, nicht ermutigt wer­den, sich sozial und politisch in einer Bewegung oder einem Projekt zur Veränderung zu engagieren. Die Bildung in formalen Institutionen ist ent­scheidend für die Sozialisierung dieser Lesart der Realität. Vandana Shiva, eine große Wissenschaftlerin und feministische Ökologin aus Indien, nennt dies die „Monokultur der Köpfe“. Diese Monokultur erzeugt bei den Schülern das naive Bewusstsein, dass dies die gute und wünschenswerte Welt ist. Sie erkennen nicht, dass sie vom herrschenden System vereinnahmt und zu dessen Reproduzenten gemacht werden.

Gegen all dies setzte Paulo Freire sein erzieherisches und befreiendes Projekt, das mit der „Pädagogik der Unterdrückten“ und der „Erziehung als Pra­xis der Freiheit“ begann und mit der „Erziehung mit Liebe und Hoffnung“ endete. Er prägte den Ausdruck „hoffen“: sich nicht zurücklehnen und darauf warten, dass sich die Dinge von selbst ändern, sondern die Bedingungen dafür schaffen, dass die Hoffnung ihre transformativen Ziele er­reichen kann.

Wie können wir uns von einem naiven, manipulierten Bewusstsein befreien? Der Prozess der Bewusstseinsbildung reicht nicht aus, denn kritisch zu verstehen, was geschieht, bedeutet nicht, zu ändern, was geschieht. Wir müssen zu einer alternativen Praxis übergehen und dem herrschenden Sy­stem ein anderes, egalitäres, nicht konsumorientiertes Gesellschaftsparadigma entgegensetzen, das solidarisch ist mit einer Produktionsweise, die auf den Rhythmen der Natur basiert (Agrarökologie und Kreislaufwirtschaft), und einer anderen Art von ökologisch-sozialer Demokratie von unten nach oben, in der die Rechte der Natur und der Mutter Erde anerkannt werden, um das Ganze, die Menschheit und die Natur, im großen gemeinsamen Haus, der Mutter Erde, zu schaffen.

Übersetzt von Bettina Goldhacker

Quelle: https://leonardoboff.org, 5. 5. 24

Leonardo Boff, Dr. theol., Prof. em., geb. 1938 in Concordia (Santa Caterina, Brasilien) ist einer der Gründerväter der Theologie der Befreiung und weltweit einer der erfolgreichsten spirituellen Schriftsteller. Boff war katholischer Ordenspriester, hat sein Amt aber nach Konflikten mit dem Vatikan zurückgelegt. Für sein ökologisches Engagement bekam er zahlreiche internationale Auszeichnungen, darunter den alternativen Nobelpreis. Im Jahr 2000 gehörte Boff zu den Initiatoren der internationalen Initiative „Erd-Charta“

 

Frei Betto:

VÖGEL, DIE NICHT FLIEGEN

Die erste Generation des digitalen Zeitalters

Ich kann mir nur vorstellen, wie die Menschen, die zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert lebten, angesichts so vieler Paradigmenwechsel gedacht ha­ben! Sie haben buchstäblich den Untergang des Himmels miterlebt. Der Glaube, die tragende Säule des Mittelalters, wurde durch das Aufkommen der Wissenschaft gestürzt. Engelsscharen wichen maritimen Entdeckungen. Ptolemäus, das Idol der Leugner, wich Kopernikus und Galilei.

Voltaires Optimismus über den Einbruch der Moderne, der von seinen geliebten Töchtern, der Wissenschaft und der Technik, unterstützt wurde, hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Auf die Knechtschaft des Feudalismus folgte die Unterdrückung durch den Kapitalismus. Die Prognosen der Auf­klärung bewahrheiteten sich nicht: Trotz Nietzsches atheistischem Glauben erstarkten die Religionen in der Postmoderne, und das Dogma des un­befleckten Konzepts der wissenschaftlichen Neutralität verblasste in den Atompilzen von Hiroshima und Nagasaki.

Das Kapital ist der Herr der Welt geworden. Es ist der Gott Mammon, dem wir alle Anbetung schulden. Nichts steht über ihm, seien es Gesetze, Men­schenrechte oder Grenzverläufe. Es hat einen Samson erschaffen, der alle Philister besiegt und dem noch kein David begegnet ist, der ihn be­siegen könnte.

Ihr mächtiges Herzstück sind die digitalen Netze. Sie verursachen den­selben erkenntnistheoretischen Bruch wie die Philosophie von Descartes, die Phy­sik von Newton und die Literatur von Cervantes zu Beginn der Moderne. Und in der Postmoderne, durch die Quantenphysik, den Tod der großen Er­zählungen und die Entdeckung des Unbewussten.

Mit dem Aufkommen des Elektromotors im 19. Jahrhundert sind drei Generationen von Kommunikationsgeräten entstanden: das Radio, das wir hö­ren, das Fernsehen, das wir sehen, und die digitalen Netze, mit denen wir interagieren. Während wir angesichts von Radio, Fernsehen, Kino und Print­medien passive Objekte sind, geben uns die digitalen Instrumente das Gefühl, Protagonisten zu sein. Wir haben das Gefühl, den Gipfel der Meinungsfreiheit erreicht zu haben. Der Konsens der Mehrheit, der von der Hegemonie der Minderheit diktiert wurde, ist vorbei. Jetzt ist jeder Kö­nig oder Königin in seiner eigenen Blase. Wir sind wieder einmal tribalisiert. Ohne uns der Tatsache bewusst zu sein, dass wir in Wirklichkeit von einer ausgeklügelten Technologie manipuliert werden, die uns einen virtuellen Chip einpflanzt und uns dazu bringt, uns selbst als Bürger ab­zutun, um uns auf den Status von bloßen Konsumenten zu reduzieren.

Was sind die Folgen einer solch abrupten Erkenntnisrevolution? Kinder und Jugendliche haben heute einen doppelten (Ent-)Bildungsraum: den in­stitutionellen (Familie, Schule, Kirche usw.) und den digitalen (Google, TikTok, Instagram, X, Facebook, YouTube usw.). Da es sich um an­ta­go­ni­stische Räume handelt, entsteht ein Konflikt in der Subjektivität. Die Tendenz geht dahin, dass sich das Digitale gegenüber dem Institutionellen durch­setzt. In der digitalen Welt findet jeder seinen eigenen Stamm, der die gleiche lautmalerische Sprache spricht. Und sie schaffen sich ihre eige­nen Werte, ohne auf die autoritäre Stimme von Eltern, Lehrern, Geistlichen und Politikern zu hören. Dort ist jeder Nutzer "primus inter pares", kein Kind, Student, Gläubiger oder Wähler.

Es gibt jedoch ein ernstes Problem. Stellen Sie sich vor, Sie reisen auf dem Landweg von São Paulo nach Rio de Janeiro, ohne Straßen, Karten, Wegbeschreibung oder Fahrzeuge. Das Leben besteht aus Paradigmen, Referenzen, Werten und Zielen. Wenn nichts davon fest ist, weil wir in der von Marx vor­hergesagten „flüssigen Gesellschaft“ (Bauman) leben („alles, was fest ist, löst sich in Luft auf“), fühlen wir uns verloren. Denn die Zeit wartet nicht. Und wer den Weg nicht kennt, hat keinen Horizont für die Zukunft. Er gerät in den Strudel des Hier und Jetzt, ohne dass das Leben seine Linie der Geschichtlichkeit in der Zeit findet.

Daher die vielen jungen Menschen, die sich weigern zu reifen. Ohne logische Sprache, als Geiseln des prekären telegrafischen Dialekts der Netze, als Gefangene ihrer virtuellen Spiele, treiben sie im Meer des Lebens, ohne Kompass. Sie sind Vögel und wissen nicht, wie man fliegt. Als Er­wach­se­ne, die noch unter dem Dach der Familie leben, sehen sie aus wie Schiffbrüchige, die sich an die Trümmer einer untergegangenen Epoche klam­mern, weil sie nicht schwimmen gelernt haben. Sie schreien um Hilfe! Sie wissen nicht einmal, was eine Utopie ist – was sie aus diesem Strudel ret­ten könnte, der sie wie ein Abflussrohr in ein einkaufszentriertes, ständig von den di­­gitalen Netzen überwachtes Leben zieht. Viele leiden unter No­mophobie, der Sucht nach dem Mobiltelefon. Es ist leicht zu erkennen, ob Sie bereits von dieser Krankheit befallen sind: Schalten Sie Ihr Handy aus, wenn Sie ins Bett gehen?

Ich weiß nicht, was die Zukunft für diese erste Generation bringen wird, die vom analogen ins digitale Zeitalter gewechselt hat. Die Symptome sind jedoch nicht ermutigend: zunehmender Hass, das Wiederauftauchen der neonazistischen Rechten, eine produktive Wirtschaft, die von einer spe­ku­la­tiven Wirtschaft verdrängt wird, eine Zu­nahme krimineller Formen der Diskriminierung (Homophobie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Frau­en­feindlichkeit usw.). Verleugnung, Aufhebung und Polarisierung kommen ins Spiel. Ethische Werte werden ausgehöhlt, der Ökozid nimmt zu und die Menschenrechte werden ins Lächerliche gezogen.

Während wir ratlos auf die Sintflut in Rio Grande do Sul starren, ist uns nicht bewusst, dass wir uns am Rande des Abgrunds befinden. Es gibt keine Brücke namens Utopie, die uns ins Trockene bringen könnte. Wie die Natur, die uns nicht braucht und verschiedene Arten wie die Dinosaurier aus­gelöscht hat, sind wir Menschen dabei, uns selbst zu vernichten, wie der Ouroboros, die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt.

Noch ist Zeit, das Schlimmste zu verhindern, wie die Förderung des kritischen Denkens, die Einführung des dialektischen Denkens anstelle des ana­lytischen Denkens und vor allem die Regulierung der Netzwerke und ihrer Plattformen.

Quelle; www.freibetto.org/artigos/, 20. 5. 24

Frei Betto („Bruder Betto“; bürgerlicher Name: Carlos Alberto Libanio Christo), geb. 1944 in Belo Horizonte, ist ein Dominikanermönch und Befreiungstheo­loge aus Brasilien. Er hat viele Auszeichnungen für seinen Einsatz für die Menschenrechte erhalten. Neben dem Bruno-Kreisky-Preis für Menschen­rech­te erhielt er u. a. den Preis der Schwedischen Stiftung für Menschenrechte so­­wie den Right Livelihood Award („Alternativer Nobelpreis“). Betto ist Autor zahl­reicher Bü­­cher, u. a. „Nachtgespräche mit Fidel“.

 

BUCHTIPP:

Wolfgang Palaver, Für den Frieden kämpfen. In Zeiten des Krieges von Gandhi und Mandela lernen. Friedensethische Überlegungen. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2024. 120 Seiten, Euro 18,00.

Wolfgang Palaver beginnt seine friedensethische Studie über Mahatma Gandhi und Nelson Mandela sowie deren Bedeutung für die aktuelle Frie­dens­politik mit einem Einblick in seine persönliche Biographie. Den Namen „Gandhi“ hörte er als Kind erstmals von seinem Hausarzt wegen seines da­mals schmächtigen und mageren Körpers. Später nahm er als Aktivist der Katholischen Studierenden Jugend an einem Seminar von Hildegard Goss-Mayr und Jean Goss teil, bei dem er mehr  über den gewaltfreien Kampf Mahatma Gandhis für die Unabhängigkeit Indiens er­fuhr. Dieses Se­mi­nar inspirierte ihn zur Wehrdienstverweigerung und zur Ableistung des Zivildienstes (1978/79) sowie Anfang der 1980er zum Engagement in der Friedensbewegung und dann zum Studium der katholischen Theologie an der Universität Innsbruck. Palaver gehörte zu den Gründungs­mit­glie­dern der Pax-Christi-Landesgruppe Tirol und nahm auch an internationalen Konferenzen von Pax Christi teil. Von 1993 bis 1996 war er Vizepräsi­dent von Pax Christi Österreich. Nach einer „Pause“ von 23 Jahren ist er seit April 2019 Präsident, eine Funktion, die früher Bischöfen vorbehalten war.

1987 wurde Palaver in Innsbruck Assistent am Institut für Moraltheologie und Gesellschaftslehre bei Univ.-Prof. Herwig Büchele, der die hun­dertbändige Gesamtausgabe der Werke Gandhis für die Institutsbibliothek anschaffte. Palavers Schwerpunkt lag auf der friedensethischen Betonung der Gewaltfreiheit – auch bei seiner Dissertation und Habilitation. Von 2002 bis 2023 leitete Wolfgang Palaver dann selbst dieses Institut. Er schreibt: „Wirklich bedeutend wurde für mich Gandhi aber erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.“ (12). An Gandhi faszinierte ihn nicht nur die Gewaltfreiheit, sondern auch seine „offene Haltung gegenüber den unterschiedlichen Religionen“, ja er sah „eine grundsätzliche Gleich­heit der Religionen“ (13), wobei für ihn feststand, „dass der Islam genauso wie das Christentum, der Buddhismus und der Hinduismus eine ,Re­ligion des Friedens’ ist.“

Im Herbst 2018 nahm sich Wolfgang Palaver ein Forschungssemester, das er gemeinsam mit drei KollegInnen am Center of Theological Inquiry an der Princeton University in New Jersey zum Thema „Religion und Gewalt“ absolvierte. Dort entstand die Idee, ein neues Projekt am Stellenbosch Institute of Advanced Study in Südafrika zu beantragen, das sich auf das von Gandhi in Südafrika entwickelte Konzept der aktiven Gewaltfreiheit konzentrieren sollte. Die Forschungsarbeit der vier internationalen Wissenschafter dauerte von Jänner bis Juni 2021 und fand in einer Sondernummer der Zeitschrift „Religions“ zum Thema „Nonviolence and Religion“ ihren Niederschlag. (Im Internet kostenlos downloadbar: https://mdpi.com/books/reprint/7090-nonviolence-and-religions).

Obwohl der gemeinsame Ausgangspunkt des Forschungsprojekts Mahatma Gandhi war, drängte sich für die Gruppe die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gandhi und Nelson Mandela zwangsläufig auf und sie entdeckte auch tatsächlich viele Verbindungen. Palaver fasst es kurz zusammen: „Gandhi und Mandela berühren und unterscheiden sich in ihrem Zugang zur Gewaltfreiheit. Während Gandhi sie für eine grundsätzliche Lebens­hal­tung hielt, sah Mandela in ihr eher ein Instrument, das in bestimmten Situationen hilfreich sein  kann. Beide eint aber die positive Sicht der Men­schen, die sie grundsätzlich für friedensfähig halten. Sie stimmen auch bezüglich der Eskalationsgefahr von Gewalt überein und verstehen bei­de, dass sich das Verhältnis von Gewalt und Gewaltfreiheit nicht auf ein simples Schwarz-Weiß-Schema reduzieren lässt.“ (20 f.)

Die drei folgenden Kapitel des Buches (I. Frieden in Zeiten eines Dritten Weltkriegs in Stücken; II. Von Gandhi und Mandela lernen: Die vorrangige Option für die Gewaltfreiheit; III. Das Handwerk des Friedens ausüben) sind gewissermaßen eine „Nutzanwendung“ der grundlegenden These von der „bevorzugten Option für die Gewaltfreiheit“ auf die aktuelle Situation. Dabei bringt Palaver auch immer wieder Papst Franziskus ins Spiel, dessen Denken ganz auf dieser Linie liegt. Bezüglich des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine folgt der Autor allerdings ganz der west­li­chen Erzählung, wonach der einzige Fehler des Westens darin bestand, zu lange und vor allem ab 2014 zu „weich“ gegenüber Putin gewesen zu sein. Die Vorgeschichte nach 1990 wird ebenso ausgeblendet wie die geostrategischen Interessen von USA und NATO. Leider zitiert Palaver dif­ferenzierende Aussagen von Papst Franziskus nicht: In der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“ hatte Franziskus schon im Mai 2022 vom „Bel­len der Nato an der Tür Russlands“ gesprochen. Einen Monat später präzisierte der Papst in der Jesuitenzeitschrift „Stimmen zur Zeit“: Man solle sich vom „Rotkäppchen-Schema“ lösen, demzufolge Rotkäppchen „gut“ und der Wolf der „Bösewicht“ sei. Rotkäppchen steht hier für die Ukraine und den Westen, der Wolf für Russland. In jener Auseinandersetzung „gibt es keine metaphysisch Guten und Bösen auf abstrakte Art und Wie­se“, sagte Franziskus. Stattdessen habe sie globale Dimensionen „mit Elementen, die stark ineinander verwoben sind.“ (zitiert nach „Augsburger Zei­­tung“, 16. 6. 22). Außerdem kritisierte Franziskus im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wiederholt die Interessen der Rüstungsindustrie und des internationalen Waffenhandels – und er sprach sich immer wieder für einen Waffenstillstand und Verhandlungen aus (was ihm in westlichen Me­dien öfters den Vorwurf des „Putin-Verstehers“ eintrug).

Palaver zeigt sehr überzeugend die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Gandhi und Mandela in Bezug auf Gewalt/Gewaltfreiheit auf und hebt einen wesentlichen Aspekt besonders hervor: „Mandelas wichtigster friedensethischer Beitrag für unsere Gegenwart war, dass er klar die Ver­gebung der Vergeltung vorzog... Der Vorrang der Vergebung schützt auch vor der so gefährlichen Eskalation der Gewalt.“ Der Autor sieht hier auch eine Parallele zur Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Fran­ziskus.

Im 3. Kapitel greift Palaver den Satz des Philosophen Karl Jaspers auf: „Der Frieden beginnt im eigenen Haus“ und bekräftigt diese These mit einem Zitat von Papst Johannes Paul II. „Der Friede ist weniger eine Frage der Strukturen, als vielmehr der Personen.“ Und auch Gandhi betonte, dass der Frieden bei einem selbst beginnen muss und es keinen Frieden geben könne, solange Hass und Gewalt im Herzen vorherrschen (87 f.). Diese vor allem im kirchlichen Bereich weit verbreitete Auffassung scheint mir allerdings empirisch kaum belegbar zu sein: dass z. B. die Schweiz oder Schweden in den vergangenen Jahrhunderten in keine Kriege verwickelt waren, lag wohl kaum an den friedfertigeren Bewohnern, sondern an internationalen Faktoren. So wichtig auch der persönliche Bereich ist und Menschen auch privat Gewaltfreiheit praktizieren sollen, über Krieg oder Frieden wird auf anderen Ebenen entschieden. Da geht es um geostrategische, ökonomische und politische Interessen. Palaver schwächt auch ab, wenn er Papst Franziskus zitiert: „Allerdings ist es zur Lösung einer so komplexen Situation wie der, mit der sich die Welt von heute aus­ein­an­der­set­zen muss, nicht genug, dass jeder Einzelne sich bessert... Auf soziale Probleme muss mit Netzen der Gemeinschaft reagiert werden, nicht mit der bloßen Summe individueller positiver Beiträge.“ (91 f.).

Zum Abschluss noch ein Zitat des Autors, das als Resümee dieses lesenswerten Buches gelten kann: „Für Gandhi und Mandela gilt, dass sie durch Gnade trotz aller Bedrängnisse und der immer wieder neu aufbrechenden Gewalt nie die Hoffnung verloren haben. Hoffnung gehört zu den not­wen­digen Tugenden von Friedensstifter:innen.“ (96)

Adalbert Krims